Kultur, Nach(t)kritik

»Was hat uns eigentlich ein Russ zu befehlen? Wir sind die bayerische Partei.<<

Hannes Kerber
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“Inspektor Kajetan kehrt zurück” ist Robert Hültners fünfter Katejan-Krimi. Eine Leseprobe des Tukan-Preisträgers 2009.

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Paul Kajetan ist diesmal auf der Flucht, weil er den korrupten Machenschaften der Münchener Polizei auf die Spur gekommen war. Vom Grenzort Zellach aus versucht er über die Berge nach Österreich zu fliehen.”Kajetan kehrt zurück und er ist doch ganz der Alte geblieben”, sagte Andrea Maria Schenkel zum neuen Roman. “Robert Hültner schafft es, mit seiner Figur des Inspektor Kajetan die Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen lebendig werden zu lassen und zieht den Leser in seinen Bann. Lässt nicht locker, zieht uns tiefer und tiefer und ganz nebenbei verstehen wir, wie alles kam und warum es so kommen musste.”

München, Ende August 1928

Während des Tages war der graue Himmel wie ein verwaschenes Leintuch über der Stadt gehangen. Am späten Nachmittag sank die Wolkendecke tiefer, stäubend feiner Niederschlag brachte das Pflaster und das matte Blattwerk der Straßenbäume zum Glänzen. Als die Dämmerung hereinbrach, rissen die Wolken auf, es wurde wieder etwas milder, doch plötzlich färbte schwefelgelber Schein den Abendhimmel. Das Gezwitscher der Vögel verstummte. Jäh prasselte ein Wolkenbruch mit ohrenbetäubendem Getöse herab, scheuchte die Städter in ihre Häuser und brachte das geschäftige Treiben auf den Straßen und Gassen zum Erliegen. Eine endlos wirkende Zeit goss es wie aus Kübeln. Rasch schwollen Isar und die Bäche der südlichen Vorstadt an.

Allmählich klang das Unwetter ab und ging in ein lautloses Nieseln über. Als der mitternächtliche Glockenschlag der Giesinger Kirche wimmernd ausklang, erfüllte das Rauschen von Fluss und Bächen noch immer die Luft. Nebel wälzte sich durch die Gassen, dicht wie der Dampf in einer

Waschküche.

Vom Haidhauser Hochufer kommend, hastete Lipp Kersch baumer durch den Lichthof einer milchig schimmernden Straßenlampe an der Ohlmüller-Straße, um sogleich vom Dunkel der schmalen Gassen wieder verschluckt zu werden.

Kurze Zeit später platschte er durch die Pfützen im lichtlosen Innenhof einer aufgelassenen Sägemühle und verschwand in der Tür eines heruntergekommenen Gebäudes. Er tastete sich das unbeleuchtete Stiegenhaus in den ersten Stock hinauf. Auf dem Absatz hielt er inne und lauschte in die Dunkelheit. Aus einem Schlitz unter einer Türe am Ende des Flurs schimmerte Licht. Leises Gemurmel war zu hören, ein Bodenbrett knarrte unter einem schweren Schritt.

Lipp Kerschbaumer atmete durch, um seinen hämmernden Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er hastete auf die Türe zu und stieß sie auf. Das Licht einer Kerze flackerte. Die beiden Männer in der kleinen Kammer fuhren alarmiert herum und starrten ihn an.

»Da ist er ja«, hörte er eine erleichterte Stimme.

Lipp holte röhrend Luft. »Wer ist es gewesen!?« Mit einem Hackentritt schlug er die Tür hinter sich zu. »Wer hat geschossen?«, rief er. Er presste seinen Rücken an das Türblatt, als könne er damit das Eindringen eines weiteren Unglücksboten verhindern. »Hölzl!?«

Der Angesprochene war ein untersetzter Mann mit fleischigem Gesicht und kleinen, dunklen Augen unter der wulstigen Stirn.

»Endlich bist da, Kerschbaumer«, beschwichtigte er den Ankömmling. »Wo bist denn so lang geblieben?«

»Ich hab euch was gefragt!«

»Plärr noch lauter! Scheinst wohl scharf drauf zu sein, dass uns die Grünen gleich erwischen, oder was?«

»Wers gewesen ist, möcht ich wissen«, keuchte Lipp. Sein Blick flog in die Ecke der Kammer, in der Jakl Dosch auf einer Wandbank gekrümmt kauerte und noch immer stoßend atmete. Wie sie es vereinbart hatten, war jeder von ihnen nach diesem unglückseligen Unternehmen auf unterschiedlichen Wegen zum aufgelassenen Holzlager in Untergiesing gerannt, um das weitere Vorgehen zu beraten.

»Jakl!« Lipp zog den Rotz hoch. »Bist dus gewesen?«

Der Angesprochene hob sein hohlwangiges Gesicht. »Was schaust ausgerechnet mich an?« Matte Empörung klang aus seiner Stimme. »Möchst dus vielleicht mir anhängen?«

»Ich schau euch alle zwei an!«

»Weckts nur das ganze Viertel auf«, sagte Hölzl. Der Parteifunktionär griff sich einen Schemel, ließ sich darauffallen und streckte die Beine von sich. »So ists recht. Genau so gehört sichs für ein geheimes Parteikommando.« Er kramte in seiner Jackentasche und zog ein verbeultes Päckchen Zuban hervor. »Ganz genau so.«

»Wer es war, möcht ich wissen!«, schrie Lipp. Seine alte Narbe an der Stirn pochte.

Hölzl streifte ihn mit einem zornigen Blick, steckte sich eine Zigarette an der Kerze an und nahm einen tiefen Zug. »Hock dich hin, Lipp«, sagte er beherrscht. »Geschehn ist geschehn.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn, drehte sich zum Fenster und sah in die tintige Nacht hinaus. Regen prasselte gegen die Scheiben. »Der Schöttl ist ein Lump gewesen. Er hats nicht anders verdient.« Sein Blick kehrte zu Lipp zurück. »Es ist egal, wers gewesen ist. Jeder von uns hat eine Pistole dabei gehabt, und zum Schluss ist es drunter und drüber gegangen. Aber deswegen brauchst jetzt nicht gleich die Nerven zu verlieren. Kein Mensch hat uns gesehen.«

Lipp Kerschbaumer trat einen Schritt vor. Seine Schuhe schmatzten beim Gehen, von den Säumen seiner durchnässten Kleidung tropfte noch immer Wasser und bildete kleine Pfützen zu seinen Füßen. Sein Gesicht glühte, die nassen Haare klebten ihm in Strähnen über Stirn und Schläfen. Das Licht der Lampe, die von der Decke der niedrigen Kammer baumelte, ließ seine noch jungen Züge ausgemergelt erscheinen.

»Du warst es, Hölzl«, sagte er leise.

»Reiß dich zusammen! Noch bin ich der Kommandant.«

»Drauf scheiß ich ab jetzt! Gibs endlich zu.«

»Auf was ein Genosse wann scheißen darf, ist noch nicht ausgemacht, Kerschbaumer«, sagte Hölzl ungerührt. »Und wie kommst überhaupt drauf, dass ich es gewesen bin? Hast dus vielleicht gesehen?«

Lipp schien die Frage nicht gehört zu haben. »Warum hast du geschossen? Es war anders ausgemacht. Er hätt einen Denkzettel kriegen sollen. Ein paar Watschen, sonst nichts!«

Hölzl paffte und sah an ihm vorbei. »Ob dus gesehen hast, hab ich dich gefragt.«

Lipp spürte, wie sein Herzschlag vor ohnmächtiger Wut zu poltern begann. Eine Übelkeit kroch heran.

»Der Lipp hat recht. Von Schießen ist nie die Red gewesen«, warf Jakl verdrossen ein. Er hielt seine Arme um seinen Oberkörper geschlungen, als friere ihn.

Wieder unterdrückte Hölzl einen zornigen Impuls. »Jetzt hörts einmal zu, Genossen«, begann er. »Wir spielen hier nicht Räuber und Schandi, kapiert? Die Partei ist von oben bis unten von Spitzeln verseucht. Fangen wir einen, schleicht sich von der anderen Seite wieder ein Neuer rein.« Er hob seine Stimme: »Kerschbaumer! Dosch! Muss ich Euch erzählen, wie viele von uns schon eingefahren sind, weil bei der Verhandlung auf einmal einer von diesen Drecksäuen als Zeuge aufgetaucht ist? Die besten Kameraden waren drunter! Ist euch das auf einmal egal?«

»Da drum gehts doch gar nicht«, sagte Jakl. »Aber wenn ich gewusst hätt, dass –«, Hölzl schnitt ihm mit einer gereizten Handbewegung das Wort ab und fuhr beschwörend fort: »Wir haben vom Genossen Grabow persönlich den Auftrag, diese Drecksäu unschädlich zu machen. Wenn ihr gemeint habt, es langt, denen ein bissl mit dem Finger zu drohen, dann habt ihr in einem Geheimen Parteikommando nichts verloren, verstanden?«

»Dieser Grabow … keiner in der Partei kennt ihn, bloß du.« Hölzl verdrehte die Augen zur Zimmerdecke. »Darf ich nicht drüber reden, Dosch. Wie oft soll ichs dir noch erklären.«

»Was hat uns eigentlich ein Russ zu befehlen? Wir sind die bayerische Partei.«

»Und von der Komintern hast auch noch nie was gehört, stimmts?«

»Doch …«, sagte Jakl müde.

»Na, wenigstens etwas«, seufzte Hölzl.

»Du kapierst nicht!«, setzte Jakl wieder an. »Hätt ich gewusst, dass einer bei der Sach draufgehen kann, hätt sich die Partei einen anderen suchen müssen.« Er hob sein schmales Gesicht zu Hölzl. »Und ich wars nicht, der geschossen hat.« Er drehte sich zu Lipp. »Hab doch nicht einmal entsichert gehabt.« Seine letzten Worte waren in ein Flüstern übergegangen.

Hölzl strich sich in gespielter Verzweiflung mit der Hand über seinen Schädel. »Kapiert ihr denn allweil noch nicht, ihr Anfänger? Es ist komplett egal, wem von uns ein Schuss abgegangen ist. Ist wie bei den Weibern. Ist nicht vorgesehen gewesen, richtig, kann aber vorkommen! Je nervöser einer ist, desto eher!«

Lipp lachte grimmig auf. »Genauso werdens die Richter auch sehn.«

Hölzl ging nicht darauf ein. »Genossen!«, setzte er wieder mit eindringlicher Stimme an. »Ich sags noch mal: Keine Sau hat uns gesehen. Es gibt also bloß eins, das uns gefährlich werden könnt. Nämlich, wenn einer von uns jetzt die Nerven verliert!« Drohend ergänzte er: »Das aber wird die Partei nicht zulassen, da könnts Gift drauf nehmen.« Er fixierte Jakl, dessen Schädel zwischen seine Schultern zu schrumpfen schien. Hölzl registrierte befriedigt sein erschöpftes Nicken, warf seine Zigarette zu Boden und sagte lauernd: »Du auch, Kerschbaumer? Haben wir uns verstanden?«

Lipp war noch immer fassungslos. Er klappte den Mund ein paarmal auf und zu, bevor er hervorstieß: »Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was jetzt losgeht? Wenn ers nicht überlebt –«

»Dann hat ers nicht anders verdient!«, fiel ihm Hölzl heftig ins Wort.

»Aber wir … wir werden als Mörder gesucht!« Dass er spürte, wie seine Augenwinkel feucht wurden, machte Lipp nur noch zorniger. »Was ist mit den Genossen im Ruhrgebiet droben wegen einer gleichen Sach passiert, vor zwei Jahren? An die Wand gestellt sinds worden!«

»Klassenjustiz ist das gewesen«, sagte Hölzl. »Sogar die Bürgerlichen habens zugeben müssen.«

»Und damit, dass die Bürgerlichen hinterher was zugeben, könnens jetzt die Würmer füttern, oder was?!« Lipps Stimme überschlug sich. »Hölzl … bist dus gewesen? Red, sonst –!«

»Es muss endlich durchgegriffen werden! Gründlich!«

»Ob du geschossen hast?! – Du warst es!«

»Zum letzten Mal«, sagte Hölzl beherrscht. »Hast dus gesehen?«

»Nein! Bin doch schon wieder im Hausgang gewesen, wies gekracht hat!«

»Also nichts hast gesehen«, stellte Hölzl fest. »Ich sag dirs noch mal, Lipp. Reiß dich ja zusammen. Die Geduld der Partei hat Grenzen.«

»Ich … ich trau dir nicht, Hölzl …« Lipps Stimme klang jetzt heiser. »Ich hab dir noch nie getraut …«

Der Mund des Funktionärs zuckte. Verächtlich maß er sein Gegenüber. »Kann auf Gegenseitigkeit beruhen, Kerschbaumer. Ich frag mich auch langsam, auf was für einer Seiten du eigentlich stehst.« Er bemerkte, dass ihn Dosch ungläubig anstarrte. Seine Stimme wurde wieder drängend: »Herrgott! Ihr seids doch keine Weiber! Ihr müsst es endlich kapieren! Es ist Krieg, Genossen!« Wie zur Bekräftigung schlug er seine Hände auf seine Oberschenkel. »Und jetzt ist Schluss mit der Winslerei! Hab ichs denn mit Kommunionbuben zu tun, oder was?« Er stand auf und ging zum Fenster. Der Regen hatte nachgelassen. Hölzl schob den Saum des verschlissenen Vorhangstoffes zurück und sah prüfend in die Nacht hinaus. Er zog den Vorhang wieder zu und kehrte zu seinem Schemel zurück. »Und jetzt reden wir darüber, was wir den Kriminalern sagen, wenn sie uns …«

»Ich trau ihm nicht, Jakl«, setzte Lipp wieder an. »Der ist nicht sauber –« Sein Magen krampfte sich. Er tat ei nen ungelenken Schritt zurück und tastete nach der Türklinke.

»Wohin gehst?«, sagte Hölzl scharf.

»Aufs Scheißhaus …«, würgte Lipp hervor. »Ich muss … speiben. Oder wärs dir … lieber, ich täts da herin?«

Er wartete Hölzls Entgegnung nicht mehr ab, ging hinaus und zog die Türe hinter sich zu. Seine Kehle wurde eng, Säuregeschmack füllte seinen Gaumen. Er rang nach Luft, wankte einige Meter vorwärts, bis er die Türfassung des Aborts mit seinen Fingern ertastet hatte, drückte die Türe auf und griff nach dem Abortdeckel.

In diesem Moment hörte er mehrere Schläge, die an die Haustüre unter ihm donnerten, nur wenige Augenblicke danach das Splittern und Bersten des nachgebenden Holzes, dann das Poltern der Stiefel und den hechelnden Atem mehrerer Männer auf der Stiege.

Lipp zog die Türe hinter sich zu und hielt den Atem an. Durch den Schlitz unter der Türe huschte der Schein flackernder Lampen vorüber. Sekunden später dröhnten nur wenige Meter entfernt wieder Schläge.

»Polizei!!«, hörte er eine laute Stimme. »Waffen weg! Einzeln und mit erhobenen Händen herauskommen!«

Lipp stieg auf das Abortbrett, suchte nach dem Fensterhaken, drehte ihn, öffnete das schmale Fenster und wand sich hinaus. Noch immer fiel Regen. Unter ihm gurgelte der schwarze Stadtbach. Der Geruch abgestandener Lauge und Fäkalien drang an seine Nase. Er stieß sich ab. Als er im Wasser landete, spürte er einen Schlag. Ein reißender Schmerz schoss durch seine Wade. Er tauchte unter.

(Dieser Text ist dem neuen Roman “Inspektor Kajetan kehrt zurück” von Robert Hültner entnommen, der 2009 als btb-Taschenbuch erschienen ist. Der Roman kostet 15 Euro 95.)

Am 7. Dezember liest Robert Hültner um 19 Uhr im Literaturhaus (Salvatorplatz 1) im Rahmen der Tukan-Preisverleihung 2009. Es sprechen Stadtrat Klaus-Peter Rupp und Dr. Hans Dieter Beck, Vorsitzender des Tukan-Kreises. Die Laudatio hält Ulrich Klenner. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung (unter Tel. 089/29 19 34-27) wird gebeten.

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