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Freundschaft mit Anna

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Am Mittwoch liest Rosemarie Tietze aus ihrer Neuübersetzung von Lew Tolstois “Anna Karenina”. Eine Buchkritik über eine Ãœbersetzerin, die sich mit ihrer Hauptfigur befreundet hat.

tolstoi

Sie gehört wohl zu den allerunglücklichsten unter den unglücklichen Frauen der  Literaturgeschichte: Anna Karenina. Die Leidensgeschichte dieser Frau, die, mit dem kühlen Karrieristen Karenin verheiratet, eine Mesalliance mit Oberst Wronski eingeht, und sich nach der Enthüllung des Verhältnisses ins gesellschaftliche Aus begibt, hat im Jahr 1875, zur Zeit ihres ersten Erscheinens als Fortsetzungsroman in der russischen Zeitschrift „Usski westnik“ die Gemüter erhitzt, die Vorstellungskraft beflügelt, ihre Leser die Zeit vergessen lassen.

Dies gilt bis heute. Mehrere Verfilmungen, Bühnenadaptionen nahmen den Text zur Grundlage. „Anna Karenina“ hat große Romanciers wie Thomas Mann beeindruckt, Vladimir Nabokov griff den ersten Satz des Romans in „Ada oder das Verlangen“ auf, Milan Kundera ließ den Hund der Protagonistin Teresa in „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ nicht ohne Ironie auf den Namen

Karenin hören. Fünfzig Jahre sind vergangen seit der letzten deutschen Übersetzung dieses großen Gesellschaftsromans, an dem Lew Tolstoi fünf Jahre lange arbeitete. Rosemarie Tietze legt nun eine neue vor, und es scheint, als befreie diese Übersetzung ein kostbares Lieblingsstück im Bücherschrank vom Staub, um es in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.

Tietze betont in ihrem Nachwort, dass es ihr darauf ankam, die sprachlichen Eigenheiten von Tolstoi nicht zugunsten eines geschlosseneren Leseeindruckes aufzuheben. Tolstoi bediene sich häufiger Wiederholungen, verwende flüchtig wirkende und abgerissen klingende Sätze. Vieles davon sei in den etwa zwanzig vorangegangen Übersetzungen ins Deutsche der sprachlichen Glätte zuliebe eingeebnet worden. Zugleich beansprucht Tietze aber nicht die „ideale“ Übersetzung. Denn Übersetzung komme nie an ein Ende – erst recht nicht bei dieser Enzyklopädie des russischen Lebens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Bereits die deutsche Übersetzung von Fred Ottow brachte an vielen Stellen zum Vorschein, was Tolstois Roman zu Weltrang verholfen hat: die Lebendigkeit der Figurenzeichnung. Es sind keine Typen, sondern so differenzierte Charaktere mit anziehenden und abstoßenden Seiten, wie man sie sich auch in der Realität manchmal wünschen würde. Karenin etwa ist eben nicht einfach der eiskalte Bürokrat, Wronski nicht nur der amoralische Vertreter der adligen Jeunesse dorée. Lewin nicht nur ein der Gesellschaft abgewandter Grübler, der auf seinem Landgut die Moral retten will und das Leben unter Bauern und Tagelöhnern dem Leben in den Salons vorzieht.

Auch Tolstois Kunst, Spannungsbögen zu ziehen, die Geschichte geschickt zu retardieren, einzelne Handlungsfäden bereits in Nebenaspekten anzudeuten – wenn etwa bei Annas erster Begegnung mit Wronski bei ihrer Ankunft am Moskauer Bahnhof ein Mann Selbstmord begeht –, und einzelne Regungen seines Personals in inneren Monologen weit voranzutreiben, um sie dann doch des Irrtums zu entlarven, halten die Lektüre unvergleichlich aufregend. So auch die Gegenüberstellung individueller Entwicklung und gesellschaftlicher Prozesse, zudem die Virtuosität, mit der Tolstoi die Figuren choreographiert und in stets wechselnde und sich ineinander spiegelnde Konstellationen bringt.

Dennoch: während bei der ersten Lektüre von Ottows Übersetzung das Einzelschicksal der titelgebenden Protagonistin zentral zu sein schien und vieles von den politischen und gesellschaftlichen Dimensionen des Romans fremd wirkte, ergibt sich nun in der von Rosemarie Tietze ermöglichten Relektüre ein äußerst plastisches Bild der Verhältnisse im zaristischen Russland vor der Revolution. Die Dekadenz des Adels, sein Hang zur Verschuldung, die Unzufriedenheit über verkrustete Strukturen, die Bedrängnis, unter der nicht nur die Protagonistin, sondern das ganze Volk zu leiden hat – all das scheint in der Neuübersetzung greif barer und drastischer zu werden, wirkt in mancherlei Hinsicht aktueller als manch eine der gesellschaftlichen Analysen in Romanen der Gegenwart.

Letztlich (und hier muss Bedauern darüber geäußert werden, dass der Roman der Rezensentin in der Originalsprache unzugänglich bleibt) ist Tolstois Erzählkunst einzigartig im handwerklichen wie im schöpferischen Sinn: wie Wronski im Beisein der zitternden Anna sein Rennpferd zuschanden reitet; wie Lewin auf seinem Land mit seinen Tagelöhnern unter der glühenden Sonne schwitzend das Gras mäht; wie Kitty, die sich anfangs noch der Liebe Wronskis sicher glaubt, bei einem Ball bitter enttäuscht wird, da Wronski bereits dem Zauber Annas verfallen ist; wie Anna den Arm ihres Mannes ausschlägt, der sie dazu einladen soll, das Gesicht in der Gesellschaft zu wahren – Szenen wie diese stehen zugleich modell- und beispielhaft für gelungene Romandramaturgie, für genaueste Beobachtungsgabe. Tolstois Schilderungen werden sich dem Leser unvergesslich ins Gedächtnis eingraben, werden ihn an bestimmten Stellen rätseln lassen, auf wessen Seite der Erzähler gerade steht, seine Dialoge werden streckenweise vergessen lassen, dass hier überhaupt ein Erzähler noch die Fäden ordnet, die Figuren führt.

Man darf Rosemarie Tietze und dem Hanser Verlag dankbar sein, diesen unerschöpflichen Text durch die Neuübersetzung rechtzeitig zu Tolstois 100. Todestag in neuem Sprachkleid ein weiteres Mal in eine Gegenwart geholt zu haben, in der dieses gewaltige Opus immer schon stand und weiter stehen wird. Nicht nur Tolstoi hat beim Schreiben des Romans Herzblut fließen lassen, sondern auch die Übersetzerin Tietze, wie in den Schlusssätzen des Nachwortes in anrührendster Weise deutlich wird: „Die Übersetzerin jedenfalls ist Tolstoi und seiner Verlebendigungskunst auf den Leim gegangen. Sie hat sich angefreundet mit Anna, hat gestritten und gehadert mit ihr, auf sie einzuwirken versucht und gebangt um sie. Nein, nein, Anna lebt!“ Und sie scheint jünger als je zuvor.

Rosemarie Tietze liest am 24. Februar ab 20 Uhr im Literaturhaus (Salvatorplatz 1) aus ihrer Neuübersetzung von Lew Tolstojs Roman “Anna Karenina”. Wladimir Tolstoj, Ururenkel des Dichters, wird Auszüge einige russische Passagen lesen. Gemeinsam diskutieren sie über die Entstehungsgeschichte und die Originalschauplätze des Romans. Der Eintritt kostet acht bzw. sechs Euro.

(Diese Rezension von Beate Tröger erschien in der Februarausgabe des Münchner Literaturmagazins KLAPPENTEXT. Ein KLAPPENTEXT-Abonnement ist kostenlos.)

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