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Kein Morgen danach

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Gefeiert, gesoffen, geschlossen: die X-Cess-Bar war erfolgreich – so erfolgreich, dass sie schliessen musste.

Seit er von der Kündigung weiß, raucht Isi Yilmaz wieder. Der Betreiber der X-Cess-Bar steht hinter der Theke und wischt mit einem Tuch über den Tresen, seine Bar ist halbleer. Es ist halb zehn. „Müsst ihr wirklich schließen?“, fragt eine junge Frau. Yilmaz nickt. Seit ihm das Bundesvermögensamt, der Besitzer des Gebäudes, den Mietvertrag gekündigt hat, schläft der X-Cess-Betreiber unruhig. „Die sagen kein Wort. Die werfen mich einfach raus“, sagt er.

Wer drei Stunden später den roten Samtvorhang am Eingang beiseite schiebt, muss durch eine Wand. Eine Wand aus Rauch, Alkohol und Menschen; muss drücken und schubsen, um der Theke näher zu kommen. Auf 30 Quadratmetern drängen sich hundert Menschen. Der Bass pulsiert. Die Leute tanzen – nein: Sie werden getanzt. Schweiß tropft, Scherben knirschen unter den Sohlen. Platz gibt es nur auf dem Klo, wo sich Straßendreck mit Pisspfützen mischt. Drei Männer fallen vom Tisch, eine Frau kippt sich ihr Bier in den Ausschnitt.

Die X-Cess-Bar muss schließen – wegen ihres Erfolges. Die Bar lockt ihre Gäste mit der Atmosphäre des Unfertigen, Improvisierten. Früher schnitt Yilmaz in der ehemaligen Dönerbude das Kebabfleisch vom Spieß und es roch nach Frittenfett. Jetzt klebt das Bier auf dem Fußboden, die Wand hinter dem DJ-Pult ist mit nackten Brüsten tapeziert. Der Spruch „Fight the Capitalism“ ist in die Ecke geschmiert. Es seien am Morgen schon Frauen gekommen, um nach ihrem BH zu suchen, erzählt Yilmaz. Wenn er Lollis verteilt und „Süsssiiiee!“ durch den Raum ruft, wird er gefeiert wie eine Berühmtheit.

Seit der Gründung 2002 trägt die X-Cess-Bar dazu bei, aus dem Münchner Glockenbach- ein Szene-Viertel zu machen. Die Menschen strömen in die Kneipen, das Viertel hat an Wert gewonnen. Die Betreiber müssen weichen und legendäre Bars verschwinden. Zuerst hat es in München die Registratur erwischt, hier zieht eine Werbeagentur ein; dann das Cafe King, es musste einem Neubau Platz machen. Jetzt trifft es das X-Cess. „Alles wird saniert, alles verändert sich. Das muss doch nicht sein“, sagt Yilmaz. Das Dilemma: Viele Clubs mussten schließen, ohne sich woanders neu etablieren zu können – sie sterben aus. „Bald gibt es nur noch geleckte Großraum-Diskos, in denen alles gleich ist.“

Im X-Cess kann dagegen jeder auflegen, was er will; er muss sich nur in eine DJ-Liste eintragen. Wartezeit: neun Monate. Auf einen Abend Heavy Metal folgt ein Abend Neunziger- Trash, dann wieder Britpop oder Soul. Jeder darf hier sein, wie er ist oder gerne wäre. Wie der Mann auf dem Tisch. Er steht dort in einem Bärenkostüm und schrammelt mit den Fingern auf den Saiten seiner Ukulele. Dabei hüpft er von einem Bein auf das andere, strauchelt und fällt beinahe hinunter.

Doch gerade dieser Freiraum ist dem X-Cess zum Verhängnis geworden. Immer öfter haben sich Nachbarn über Betrunkene beschwert, die in der Früh herumgrölen und ihre Blase entleeren. „Wenn einer auf die Straße kotzt  pinkelt, sind wir schuld“, sagt Isi Yilmaz. „Warum?“ Für ihn gibt es zu viele Vorschriften: Sicherheit, Sauberkeit, Lärmschutz.

„Die Titten-Tapete wird bleiben.“

Doch Yilmaz ist ein Kämpfer, der sich nicht so schnell geschlagen gibt. Mit seinem russischen Fliegerhut ist er längst zur Ikone geworden. Ginge es nach ihm, würde sich nicht viel ändern, sollte er einen neuen Ort für das X-Cess finden. Sein Personal will er mitnehmen, die Platten soll weiter auflegen, wer will. Auch das neue X-Cess soll nach Exzess aussehen. „Die Titten-Tapete wird bleiben“, meint Yilmaz.

Der Barbetreiber gibt sich zuversichtlich. Er sucht bereits nach einem Ort für den X-Cess-Nachfolger. Am besten wieder im Glockenbachviertel, seinem Viertel. Noch hat er nichts entdeckt. Und selbst wenn er etwas findet, wird es wohl nie mehr so sein wie in den vergangenen acht Jahren. Wie heute. Am Tresen lehnt ein Anzugträger, sein Ärmel liegt in einer Bierlache. Mädchen fläzen in Sesseln und suchen einen, der nicht aussieht, wie der Beratertyp an der Theke. Unter den Kleiderhaken, zwischen Toilette und Zigarettenautomat, knutscht ein Pärchen, als gäbe es kein Morgen.

Das Ende der Bar nagt an Yilmaz. Er greift nach der Zigarettenschachtel. Sein Blick hetzt durch den Raum. „Die nehmen mir einen Teil meiner Seele.“

Text: Sebastian Reuter, Benjamin von Brackel
Foto: Timo Dorsch (www.jugendfotos.de)

Dieser Artikel ist im Volt-Magazin erschienen, dem Abschlussmagazins der 48. Lehrredaktion der Deutschen Journalistenschule.

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