Stadt

Hungern für ein besseres Leben

PGV 2010-12-21*389

Die Essenspakete bleiben unangetastet: In bayerischen Asylunterkünften hungern hunderte Flüchtlinge. Unbefristet. Das Leben in den Lagern hat sie in den Streik getrieben.

Deniz isst kein Schweinefleisch – er ist Muslim. Deniz isst überhaupt nicht mehr – er ist Asylbewerber. Sein Hungerstreikt ist ein stummer Hilfeschrei, er klingt verzweifelt: „Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. So kann ich nicht leben. So kann niemand leben.“ Vor sechs Jahren kam Deniz aus Somalia nach Deutschland, er floh vor Krieg und Elend. Seitdem lebt er in einer Gemeinschaftsunterkunft in Augsburg, sein Anerkennungsverfahren zieht sich in die Länge. Mit dem Protest ist er nicht alleine: Rund 500 Flüchtlinge wissen sich nicht mehr anders zu helfen und verweigern das Essen in bayerischen Asylunterkünften. Sie rebellieren gegen katastrophale Zustände in den Lagern und pochen auf eine menschenwürdige Behandlung.

Auch Achmed Eidid wohnt seit Jahren im Lager Neusässer Straße in Augsburg. Der Sprecher der Flüchtlinge bringt die zentrale Forderung auf den Punkt: „Wir wollen Geld statt Essenspakete!“ Asylbewerber dürfen in Bayern nicht selbst einkaufen, sondern müssen aus einer vorgegebenen Liste an Lebensmitteln auswählen. Das empfinden sie als demütigende Bevormundung: „Warum lassen sie uns nicht selbst bestimmten, was wir kochen wollen?“, fragt Eidid. Die Essenspakete werden ohne Rücksicht auf kulturelle Gewohnheiten zusammengestellt, die Lebensmittel sind oft von schlechter Qualität, das Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen. In anderen Bundesländern dürfen die Flüchtlinge eigenständig einkaufen, das sorgt nicht nur für bessere Integration und Kontakt zur Außenwelt, sondern ist obendrein auch deutlich billiger.

Der vorgeschriebene Speiseplan ist nicht der einzige Grund für den Hungerstreik, den Flüchtlingen geht es um viel mehr. Deniz macht einen kurzen Rundgang durch die Unterkunft und beschreibt, was er sieht: „Fünf Toiletten für 80 Personen, ein Herd für 25 Menschen, acht Erwachsene in einem Zimmer und all das über Jahre. Das ist unerträglich.“ Die meisten der Augsburger Asylbewerber kommen aus Somalia und sind vom Krieg gezeichnet, haben Kugeln oder Bombensplitter in ihren Körpern und Bilder von ermordeten Angehörigen im Kopf. Sie müssten operiert werden und benötigten psychologische Unterstützung. Auch Deniz wurde bei seiner Flucht verwundet, eine lange Narbe zieht sich von seinem linken Knie über den ausgemergelten Oberschenkel bis zur Hüfte hinauf. Die Wunde ist schlecht verheilt, eitert und pocht. Wenn Deniz aufsteht, dann wirkt er aus der Ferne wie ein alter Mann: Er humpelt, bewegt sich langsam. Treppen sind für ihn eine Qual, sein Zimmer liegt im dritten Stock. Wie alle Asylbewerber bekommt er jeden Monat ein geringes Taschengeld, manchmal gibt er die kompletten 40,90 Euro für Schmerzmittel aus. Laut dem Asylbewerberleistungsgesetz wird eine medizinische Behandlung im Falle „akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ gewährt. Deniz legt zwei ärztliche Atteste auf den Tisch, die dringend zu einer Operation raten – für das Sozialamt ist das offenbar noch kein „akuter Schmerzzustand“.

Weitere Auflagen erschweren Achmed Eidid und seinen Mitbewohnern das Leben: „Bitte gebt uns das Recht zu arbeiten. Wir leben hier wie Gefangene, haben keine Bewegungsfreiheit und werden bestraft, wenn wir unseren Bezirk verlassen.“ Das liegt an der sogenannten Residenzpflicht für Asylbewerber und Geduldete. Diese Regelung ist einmalig in der EU und verpflichtet die Betroffenen, sich in einem eng begrenzten Bereich aufzuhalten. Wer dagegen verstößt, muss mit Geldstrafen rechnen, kann dafür ins Gefängnis wandern oder sogar abgeschoben werden. Bayern wartet noch mit einer regionalen Spezialität auf: Im „Freistaat“ dürfen die Flüchtlingen ausschließlich in Lagern leben, anfangs in Aufnahmeeinrichtungen, danach in Gemeinschaftsunterkünften. So werden derzeit 8500 Personen systematisch zermürbt, die strikte Lagerpflicht dient der „Förderung der Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland“. Widrigste Lebensumstände und stetige Gängelung sollen augenscheinlich als Bollwerk gegen unbeherrschbare Flüchtlingsströme dienen und die Asylbewerber zur „freiwilligen“ Heimkehr bewegen.

Im April 2010 untersuchte der Bayerische Flüchtlingsrat die Kosten der Unterbringung von Asylbewerbern und förderte ein überraschendes Ergebnis zu Tage: Es könnten jährlich drei Millionen Euro gespart werden, wenn die Flüchtlinge in Wohnungen leben dürften anstatt in Sammellagern zusammengepfercht zu werden. Dieses Gutachten bildete den Anlass für die „Schmutzige-Donnerstags-Tour“, um auf das Problem aufmerksam zu machen und einen Eindruck der tatsächlichen Lebensumstände zu bekommen. Im Oktober und November besuchte Mitinitiator Alexander Thal immer donnerstags bayerische Asylunterkünfte und prüfte, ob die Mindeststandards des bayerischen Sozialministeriums eingehalten werden. Die Zustände in den Lagern haben ihn schockiert: „Das schlägt dem Fass den Boden aus, wie die Leute hier untergebracht sind.“ Die Unterkünfte sind völlig überfüllt, durch die Decke regnet es, auf dem Boden wuchern Schimmelpilze und kriechen Kakerlaken. „Wenn ich mir die Risse in den Wänden anschaue, dann hätte ich echt Schiss, dass die Bruchbuden einkrachen. Eine solche Unterbringung macht krank.“

PGV 2010-12-21*89

Daran wird sich so bald nichts ändern: Christine Haderthauer ist als bayerische Sozialministerin zuständig für die Situation der Asylbewerber und erkennt höchstens „ein bisschen Nachholbedarf“ bei einzelnen Unterkünften. Sie wirft den Flüchtlinge vor, das Gastrecht zu missbrauchen und sichert ihnen „die größtmögliche Unterstützung seitens der bayerischen Staatsregierung“ zu, falls sie unzufrieden seien und deshalb „zurück nach Hause möchten“. Für Deniz ist dieses „Angebot“ ein Schlag ins Gesicht: „Meine Familie wollte nicht fliehen und ist in Somalia geblieben. Sie sind alle tot. Und ich soll jetzt dorthin zurück?“ Dass nur die wenigsten Menschen ohne triftigen Anlass ihre Heimat verlassen, scheint Haderthauer nicht zu interessieren, auch den Hungerstreik hält sie für „objektiv unbegründet“. Alexander Thal findet solche Aussagen untragbar und legt der Sozialministerin den Rücktritt nahe: „Wer Flüchtlinge entgegen der Faktenlage pauschal als Asylbetrüger brandmarkt und ihnen die Rückkehr ins Heimatland nahelegt, der kann jederzeit zurück ins Privatleben.“

Die Schikanen zeigen Wirkung, Deniz sieht in Deutschland keine Zukunft: „Ich bin doch nicht nur zum Essen und zum Schlafen da.“ Als sein Flugzeug 2004 auf der Landebahn des Münchner Flughafens aufsetzte, liefen Tränen der Erleichterung und des Glücks über sein Gesicht. Deutschland, das bedeutete Freiheit, damit verband er die Hoffnung auf Arbeit und war sich sicher, alles Elend ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Wenn Deniz heute weint, dann ist das Ausdruck seiner Hilflosigkeit und Wut. Erst war da diese gähnende Langeweile, später kamen Frust und Zorn. Er sehnt sich nach Kontakten, wünscht sich Gesprächsmöglichkeiten und Freundschaften. Und er will endlich etwas tun, morgens zur Arbeit gehen und abends erschöpft nach Hause kommen. „Ich komme mir so nutzlos vor. Bitte, lasst mich arbeiten!“ Doch das Zuwanderungsgesetz schottet Flüchtlinge wie Deniz fast vollständig vom Arbeitsmarkt ab, denn es gilt der Grundsatz der Nachrangigkeit: Erst wenn die Arbeitsagentur geprüft hat, dass kein Deutscher und auch kein EU-Bürger den Job annehmen will, sind die Asylbewerber an der Reihe. Das kann dauern und bis dahin hat sich der Arbeitgeber längst anders entschieden.

Asylunterkünfte sollen Übergangsstationen sein, Sprungbretter ins Leben. Für Deniz ist das Lager Neusässer Straße eine Sackgasse, der einzige Weg führt zurück nach Hause. Freiwillig oder durch Abschiebung erzwungen, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird. Vor sechs Jahren kam er nach Deutschland, damals hatte er einen Traum: Deutsch lernen, seinen Schulabschluss nachholen, studieren und sich für Frieden in Somalia einsetzen, das wär’s gewesen. Heute hat Deniz ausgeträumt, er schläft nicht einmal mehr. Der Hunger hält ihn wach, sein leerer Magen schmerzt und die Schrecken der Vergangenheit sind plötzlich wieder ganz nah. Die Kraft schwindet, wie auch der Glaube, mit dem Streik etwas verändern zu können. Abgesehen von ein paar Journalisten und Unterstützern wie Alexander Thal, scheint sich niemand für die hungernden Asylbewerber zu interessieren. Am 21. Dezember demonstrierten Flüchtlinge aus ganz Bayern vor dem Sozialministerium in München. Deniz klingt entschlossen: „Wenn die schon nicht zu uns kommen, dann gehen wir eben zu ihnen.“ Trotz Residenzpflicht und einem monatlichen Taschengeld, das gerade einmal für die Fahrtkosten reicht? „Ich habe mich von Somalia bis nach Deutschland durchgeschlagen. Einmal quer durch Bayern? Das hält mich nicht auf!“

Foto: Peter Gardill-Vaassen

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