Kultur, Nach(t)kritik

Genius loci 2.0 -Marke Eigenbau statt Mainstream

Thomas Steierer

Die neuen Urbanisten-Cover

Francesca Gavins bemerkenswerter Interview-Bildband „Die neuen Urbanisten“ präsentiert 30 Kreative und ihre Wohnungen in Berlin, Barcelona, London, Paris, New York und Tokio. Auch wenn München nicht vorkommt … Thomas Steierer hat das Buch für mucbook mal angeschaut.

Die eigenen vier Wände. Sie sind wohl für jeden von elementarer Wichtigkeit. Als Privatleben-Rückzugsort. Und: Visitenkarte. Gegenüber dem eigenen sozialen Umfeld, Freunden, Familie und Bekannten. Bei der Gestaltung der persönlichen Räumlichkeiten könnte man sich als Individuum verwirklichen. Könnte. Hier hätte man freie Hand. Hätte.

Denn: Seit geraumer Zeit grassieren bei der Inneneinrichtung vielerorts uninspirierter Ikea-Konformismus und steriler Minimalismus, oftmals ganz in Weiß. Bemängelt Francesca Gavin, Style-Journalistin und Autorin aus London. Sie stellt globaler Wohnraum-Vereinheitlichung ein Plädoyer für Individualismus entgegen. In bemerkenswert bebilderter Buchform.

Gemeinsam mit dem Fotografen Andy Sewell nimmt Gavin in „Die neuen Urbanisten“ mit auf Wohnungsschau-Weltreise. Nach Berlin, Barcelona, London, Paris, New York und Tokio. Dort ließen sich Kreative aus Bereichen wie Film, Fotografie, Architektur, Grafik, Graffiti, Mode, Set-, Möbel- und Spielzeugdesign ablichten, plauderten aus dem Nähkästchen. Und nicht zuletzt: Gewährten Gavin und Sewell Zutritt in ihre Wohn- und Arbeitsräume.

Gavins Fazit im Vorwort: „Die Einfallsreichsten sind oft mit wenig Geld und viel Eigenarbeit gestaltet. So präsentieren sie sich auch als Alternative zu gedankenlosem Konsumverhalten. Es hat durchaus einen politischen Aspekt, wenn man Abstand vom ästhetischen Spektrum des Mainstreams nimmt: Warum soll man kaufen, was man selbst gestalten kann? (…) Ruhm und Wohlstand sind Werte, die vielfach das moderne Leben beherrschen. Die Kreativen dieser Welt zeigen, dass es dazu Alternativen gibt.“

Beim vorgestellten „Creative Space“ (so der Titel der englischen Originalausgabe) findet sich Gavins Postulat in Richtung Marke Eigenbau statt Mainstream eindrucksvoll in die Praxis umgesetzt. Unikat-Arrangements. Spielzeug, Actionfiguren, Stofftiere, Hirschgeweihe, Heiligenikonen, Aktfotos. Extravagante Möbel, Kleidung, Poster, Gemälde und Collagen. Experimentelle Wand- und Treppenhausgestaltung. Umfangreiche Bücher-, Zeitschriften- Film-, CD- und Schallplattensammlungen. Allerlei Selbstgebasteltes, Vintage, Trash, Flohmarktfunde.

Derartiges kreatives Chaos dient als Selbstreferenz und Nährboden für auch dem Broterwerb zu Gute kommende schöpferische Geistesblitze. Lukas Feireiss, im Buch vorgestellter und zu Wort kommender Berliner Architekturkritiker, Autor und Kurator: „Für mich ist ein Zuhause der emotional aufgeladene Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach Originalität in räumlichen Strukturen. Unser Sein hat starken Einfluss auf unser Bewusstsein und meine Wohnung drückt durch die collageartige Mischung aus Objekten sicherlich meine Grundhaltung aus. Konstruktive Verrücktheit. Meine Wohnung ist aber auch mein wichtigster Stützpunkt und Rückzugsort –und meine wichtigste Inspirationsquelle.“

Aussagekräftige Portraitfotos spannender Individualisten, detaillierte Abbildungen ihrer Wohnungen sowie Interviews zu ihrer Wohn-Philosophie und den jeweiligen persönlichen Motiven, kreativ tätig zu werden: Francesca Gavins runde Komposition, zu deren Charme auch eine ansprechende Typografie und erfreulich überschaubare Städtetipps (eine Seite pro Metropole) am Ende von „Die neuen Urbanisten“ beitragen, inspiriert dazu, auch selbst etwas in Eigeninitiative auf die Beine zu stellen. Nicht zuletzt in Form von Do-it-Yourself-Gestaltung der eigenen vier Wände.

Francesca Gavin, „Die neuen Urbanisten. So wohnen die Kreativen in Barcelona, Berlin, London, New York, Paris und Tokio.“ Fotos: Andy Sewell. 208 Seiten mit 172 Farbabbildungen, Klappenbroschur. Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Krabbe. 2010 erschienen bei DVA. Preis: 39,90 Euro.

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