Nach(t)kritik

Liebe Рein Kampf auf Augenh̦he

Letzte Artikel von Veronika Draexler (Alle anzeigen)

540_21Megaherz__Foto_FrankJust_WEB

„Kannst du uns beschreiben wie Sperma schmeckt?“, lautet eine Publikumsfrage an den Tänzer Jose Manuel Ortiz, der mit seinem Eröffnungssolo zur Begrüßung erst ein Mal klarstellte, dass ihm unangefochten der Titel „Königin jeglicher sexy Clubtänze“ in diesem Raum zustand.

Für die gut gefüllten Publikumsreihen gab es einleitend in die 2. Ausgabe „All about sex“ der Tanz-Performance-Reihe „Wilde Tendenzen“ im i-camp unfreiwillig Nachhilfe im Fach praktisches Sexwissen. Breitbeinig zeigte der aus Mexiko stammende Jose in About Josema, wie und wo er sich rasiert, um seinem Freund zu gefallen der nicht auf Haare steht und erklärte dem Publikum außer den Geschmacksnuancen von Sperma den perfekten Blowjob. Auch angezogen entlockte er damit so einige verlegene bis erheiterte Lacher. Schade war ein wenig, dass er mit der als Anschauungsobjekt fungierenden Wasserflasche nicht auch noch einen Deep-Throat zeigen wollte. Das sei Geschmackssache, bekräftigte er.

Von der kleinen Sexschule ging es weiter zu der verstörenden Choreografie-Lyrik Should I touch you? von Katharina Poengsen und Philipp Caspari. Ein Pärchen an der Hand zelebrierte das Annähern und wieder entfernen, das Aufbrodeln der Lust und das Wiederabflauen. Plötzliche Gefühlsausbrüche und gewaltsame Sexaufforderungen mit darauf folgenden erneuten Schmuseschnurren. Ein gekonnter Beziehungsantagonismus, bei dem man sich nur auf die nonverbale Kommunikation konzentrieren durfte.

Auch das nächste Stück trug ohne Worte: Dekonstruktion des Vaters von Dorothea Seror. In gefühlten 50 Hemden bekleidet kauerte sich die Performance-Künstlerin vor das Publikum, zog sich eine Glatze an und schmierte sich clownhaft Penaten-Wundheilsalbe erst ins Gesicht und dann auf den Körper. Hässlich entstellt stand sie dann auf und riss sich eine Schicht Hemd-Vater nach der anderen vom Leib, bis sie sich mit nackten Brüsten und einem sich in der Unterhose ordentlich abzeichnenden Gemächt auf der Bühne offenbarte. Dann fiel auch der Schlüpfer und sie zelebrierte einen schwungvollen Penistanz, um sich dann in einem psychoanalytischen Kastrationsritual auch von ihm zu befreien. Dann schlüpfte sie in ein zwangsjackenähnliches Schürzenkleid, um sich in ihrer blonden, langhaarigen Weiblichkeit wieder zu entdecken.

Den Abschluss machte das Tanztheater 21 Megaherz der Choreografin Andriana Seecker, das fast zu viele Pina Bausch Zitate aufwies. Trotzdem zeigte es vielleicht gerade darum eine unglaublich starke Identifikationsbasis. Harte Clubmusik, eine alte Matratze und jetzt, ja jetzt müssen wir ja dann wohl – zur Sache kommen. Mit einem wunderschön verstörten, neurotischen Liebesschwurgeschrei als Vorspiel. Die Liebe schien sich aber dann nicht aufgrund des Sexualaktes selbst zu finden, sondern viel mehr, über Nähe und Distanz-Machtspiele, wie im zweiten Stück des Abends. Schlägereien, Geschrei, Angriffe aus dem Hinterhalt aber auch im Afront – alles ein Kräftemessen. Liebe zeigt sich als unerbittlicher Kampf auf Augenhöhe.

„All about sex“ – in vier Stücken, zeigt sehr gut ausgewählte Bilder aus dem menschlichen Beziehungsleben: Nicht unbedingt entspannend, sondern viel mehr ein leichtes Ziehen in der eigenen Herzgegend auslösend. Damit gelingt der Performancereihe “Wilde Tendenzen” vor allem eines: Denkprozesse beim Zuschauer anzuregen indem in deren Gefühlswelten gekitzelt wird.

___

Die Veranstaltung ist noch bis Samstag, den 28.05 jeweils um 20.30 Uhr im icamp, Entenbachstraße 37, München zu sehen und hier bei Facebook zu finden.

Dieser Beitrag ist auch auf selbstdarstellungssucht.de veröffentlicht.

Bildnachweis: Frank Just

Ähnliche Artikel

No Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons