Kinogucken, Kultur

Wutbürger und Drachenmädchen

Thomas Empl

„Das ist Kindesmisshandlung und sonst gar nichts!“, brüllt der entrüstete Wutbürger, springt auf und verlässt den jetzt nicht mehr bis auf den letzten Platz gefüllten Kinosaal. Gerade war im City-Kino die Münchenpremiere der Dokumentation “Drachenkinder” über chinesische Kampfsportschulen zu sehen gewesen. Nun sollten dem anwesenden Regisseur eigentlich Fragen (!) gestellt werden. Der war gerade mitten in einer Antwort, doch dem wütenden Zuschauer war wohl in letzter Zeit nicht genug Aufmerksamkeit entgegengebracht worden.

Nun ist es völlig legitim, diese Meinung aus dem Film mitgenommen zu haben. Doch wäre es nicht viel interessanter gewesen, zum Beispiel mit dem ebenfalls zugegenen Kampfsportlehrer über die Notwendigkeit des drastischen Trainings zu diskutieren? Stattdessen reduziert der irgendwie typische empörte Deutsche mal wieder ein komplexes Thema auf einzelne Schlagworte und spielt den Gutmensch, ohne fremde Kulturen zu respektieren (siehe gewisse Aussagen über „Clowns“) oder zu verstehen.

drachenimcity

Zwei Stunden vorher: Der Innenhof des City ist so voller Menschen, dass es schwer ist, sich von der Stelle zu bewegen. Es tanzen chinesische Drachen und eine Kung Fu – Schule zeigt Kampfkunststile, vom Schwertkampf bis hin zum Drunken Boxing. Das Publikum zeigt sich begeistert und vor allem die zahlreichen Kinder haben Spaß. Nur wird die im Anschluss laufende Dokumentation zeigen, was eben auch hinter dieser Show steckt: Harte Arbeit.

Der Regisseur Inigo Westmeier geht nämlich glücklicherweise objektiv an sein Thema heran. Klar wirkt es befremdlich, wenn sich die 26 000 Schüler synchron über ein riesiges Feld bewegen. Und doch ist so eine gewaltige Choreographie gleichzeitig auch beeindruckend. Westmeier will hinter diese „Fassade“ blicken und pickt sich dafür drei Mädchen aus der Masse heraus, die er mit der Kamera begleitet. Die wurden von ihren Eltern auf die Kampfschule geschickt, mal um sie Disziplin zu lehren oder um ihre späteren Berufschancen zu verbessern. Letzten Endes kämpfen nämlich fast alle Schüler um einen Weg aus der Armut und eine bessere Zukunft für sich und ihre Eltern.

Kennt ihr die Schildkrötenformation?

Bemüht sich nicht auf eine Meinung zu versteifen zeigt der Film auch, dass man vieles, was aus dem harten, täglichen Training hervorgeht, auch positiv sehen kann. Die Mädchen entwickeln eine unglaubliche Entschlossenheit; eine Zielstrebigkeit, die vielleicht manche von uns auch gerne hätten. „Es ist hart, aber es könnte auch härter sein“, sagt die Jüngste der Interviewten.
Westmeiers Ansatz geht auf: Denn trotz (oder gerade wegen) seiner Zurückhaltung erzählen die Protagonistinnen bald auch selbst viel Kritisches. Das Essen ist schlecht, es gibt keine Heizung. Und Prügeln mit dem Stock kann man nun einmal nichts Gutes mehr abgewinnen. Es scheint fast, als sei der eigentliche buddhistische Gedanke durch die Industrialisierung des Kung Fu abhanden gekommen.

Was “Drachenmädchen” absolut sehenswert macht, ist, dass man so viel Unterschiedliches aus ihm mitnehmen kann. Dass er interessante Fragen stellt, ohne einfache Antworten darauf zu geben. Als die Mädchen gefragt werden, wann sie traurig seien, zeigt sich zum Beispiel: Sie weinen meist nicht, weil das Training so hart ist. Sondern wegen ihrer Eltern. Eine versteht nicht, warum die nicht das Neujahrsfest mit ihr feiern. Eine andere will ihr Vater nur besuchen, wenn sie im Wettkampf den ersten Platz belegt. Sie wird nur Zweite, also kommt er nicht. Eine Dritte flieht sogar aus der Schule, wirkt dann zuhause aber auch nicht wirklich glücklich und klickt mit leerem Blick auf Smartphone und Computer herum.

Vielleicht kann man ja unabhängig von Kultur und Ausbildung (denn im ach so erhabenen Deutschland gibt es nur glückliche Kindheiten, oder etwa doch nicht?) Folgendes schlussfolgern: Das Wichtigste für ein Kind sind die Eltern, Punkt.

Training

Wer sich seinen eigenen Standpunkt zu Chinas Kung Fu – Schulen bilden will, der kann sich “Drachenkinder” täglich um 14:30 im City oder am Sonntag um 15:10 bzw. sonst um 17:10 im Monopol zu Gemüte führen.

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