Kultur, Was machen wir heute?

„Hochgejubelt und verdammt“.

Thomas Steierer

Zum 100.Jubiläum wird die Tour de France, die am Samstag (29.Juni) startet, überschattet von diversen Dopingskandalen. ZEIT-Autor Johannes Schweikle legt mit “Ausreißversuch” einen Schlüsselroman vor, der -nach Jan Ullrichs ambivalenter Dopingbeichte dieser Tage besonders aktuell- die Frage nach dem Warum von Doping im Sport und darüber hinaus etwa mittels Schönheitsoperationen und Ritalin beleuchtet. Im Interview spricht der Reportage-Dozent an der Akademie der Bayerischen Presse in München (Jahrgang 1960) über Sündenböcke, Auswege aus dem Betrugssystem, Ausreißversuche im Radsport und wirklichen Leben.
An aktuellen Aufhängern fehlt es nicht. Dennoch die Frage: Was reizt Sie am Thema Doping im Radsport als Romanrahmen, wie kam es zum Buchprojekt „Ausreißversuch“?
Zum einen hat mich bei der so genannten Beichte von Lance Armstrong massiv gestört, dass das keine Beichte war, sondern ein Kratzen an der Oberfläche. Er hat nur zugegeben, was die ganze Welt schon wusste. Aber zu allem, was interessant wäre, wie er sein Betrugssystem perfektioniert hat, zu all dem hat er nichts gesagt. Es hat mich gereizt, hier in die Tiefe zu gehen.
Auch der deutsche Toursieger Jan Ullrich ist des Dopings überführt.
Da haben wir das zweite Motiv für meinen Roman. Als der Dopingfall Jan Ullrich in der deutschen Öffentlichkeit verhandelt wurde, hatte ich das Gefühl: Ihm wird Unrecht getan. Klar, er hat betrogen. Aber er wurde zum Sündenbock gemacht, er wurde dämonisiert, er musste den Kopf hinhalten für sehr viele andere. Das finde ich in hohem Maße ungerecht. Deshalb wollte ich mich mit diesem Stoff beschäftigen.
Wie bewerten Sie das lange Zeit beharrliche Schweigen von Jan Ullrich in Sachen Doping?
Ich würde ihm wünschen, dass er eine Form findet, sich zu erklären. Ich bin mir sicher, dass das gut für ihn wäre. Er könnte so seinen Frieden machen. Ich kann auf der anderen Seite aber auch sehr gut verstehen, dass er dies nicht tut. Durch den Medienzirkus geschleift zu werden und als reuiger Sünder im Fernsehen, den Zeitungen und Magazinen vorgeführt zu werden, das ist eine Rolle, die sicher nicht vergnügungssteuerpflichtig ist.
Wie haben Sie für den Roman recherchiert?
Ich betreibe seit vielen Jahren selbst Radsport. Von daher weiß ich in etwa, wie er sich anfühlt. Journalistisch habe ich schon des Öfteren über dieses Thema berichtet, große Rennen aus nächster Nähe miterlebt und mit diverse Rennfahrer porträtiert. Zur Recherche für dieses Buch habe ich gezielt Gespräche geführt mit Radprofis, Trainern und Managern. Das hat sich zur faktischen Grundlage verdichtet, die ich gebraucht habe, um eine tiefgründige Geschichte schreiben zu können.
Was waren Ihre eindrücklichsten persönlichen Erlebnisse in Sachen Radsport?
Ich habe einige Etappen der Tour de France live erlebt und darüber berichtet, etwa wie sich eine französische Provinzstadt für einen Tag komplett verwandelt, wenn die Tourkarawane einfällt und aus einem verschlafenen Provinznest plötzlich der Mittelpunkt der Radsportwelt wird. Ansonsten verfolge die Tour am Fernseher, vor allem die Bergetappen. Das ist großartiger Sport. Ich sitze regelmäßig vor dem Fernseher und schicke Gebeten gen Himmel: Bitte lass doch den, der da gerade eine tolle Leistung bringt, sauber sein. Dass ich mich wirklich begeistern kann. Es nagt halt immer der Zweifel, ob ich glauben kann, was ich da sehe.
Und aktiv?
Ich bin einige Etappen in Frankreich, von denen im Buch die Rede ist, schon selbst gefahren. Der Mont Ventoux ist ein erzählerischer Fixpunkt für den Roman – ich war schon mit dem Rad oben. Als ich in diese Mondlandschaft ohne jegliche Vegetation fuhr, habe ich ebenfalls ein Stoßgebet gen Himmel geschickt: Bitte jetzt kein Gegenwind. Die Steigung ist lang und unerbittlich, es gibt keine flachen Passage zum Erholen.
Ein großartiges Erlebnis war auch die Flandernrundfahrt. Sie gehört zu den klassischen Rennen des Radsports. Am Sonntag treten die Profis an, einen Tag vorher dürfen wir Hobbyradler auf der gleichen Strecke fahren. Im Belgien ist Radfahren Volkssport wie in Deutschland Fußball. Vor dieser Kulisse und der Begeisterung der Belgier selbst zu schwitzen, das ist genial.
Haben Sie gemäß dem Romantitel selbst einmal einen Ausreißversuch unternommen?
Wenn man mit Freunden eine Tour fährt, gehört dieses Kräftemessen dazu. Dass man versucht, den anderen davonzufahren und auszuloten, wer der Stärkste ist, das hat auch in der Ebene des Freizeitsports seine Faszination.
Und im übertragenen Sinne, in anderen Lebensbereichen?
Ich empfinde die künstlerische Aufgabe, einen Roman zu schreiben, durchaus als Ausreißversuch. Das ist ein Aufbruch ins Ungewisse. Auch hierbei weiß ich nicht, ob ich die Kraft und die Fähigkeiten haben, eine Idee zu Ende zu bringen. Vielleicht merke ich unterwegs: Das war zwar eine gute Idee, aber ich habe es zum falschen Zeitpunkt probiert oder der Gegenwind ist zu stark und ich muss irgendwann aufgeben. Da gibt es durchaus Parallelen zum Radsport.
In Ihrem ersten Roman „Fallwind“ über den Schneider von Ulm geht es ebenfalls um den Absturz eines zunächst Hochgejubelten. Was reizt Sie am Fallhöhephänomen und was sagt dies über die Gesellschaft aus?
Im „Fallwind“ geht es um ein Ereignis, welches im Jahr 1811 stattgefunden hat. Bei einer Lesung aus diesem Roman kam eine schöne Reaktion von einem Zuhörer. Er sagte: Das kommt mir gar nicht vor wie 1811, sondern wie wenn es heute wäre. Genau das ist es, was mich an diesem Thema reizt: Wie geht die Gesellschaft um mit Menschen, die etwas Besonderes wagen, sozusagen einen Ausreißversuch unternehmen?
Wie geht die Gesellschaft um mit diesen Menschen?
Wenn es klappt, ist ihnen der Beifall sicher, dann finden es alle toll. Wenn der Ausreißer scheitert, heißt es hinterher: Das haben wir gleich gewusst. Beim Schneider von Ulm sagte das Publikum: Wie kommt ausgerechnet ein Schneider dazu, das Fliegen zu probieren!? Genauso ist das auch im Sport. Man möge sich bitte erinnern, wie Jan Ullrich hochgejubelt wurde. Als klar war, dass er seine Leistungen nicht nur mit Apfelschorle und Müsliriegeln erbracht hat, wurde er in der gleichen Intensität verdammt.
„Willkommen im Club der Selbstoptimierer“, sagt Kathrin, die Freundin des Protagonisten Max Witt in „Ausreißversuch“. Kann man „Ausreißversuch“ auch als Denkanstoß verstehen, müsste sich etwas ändern, im Radsport und gesellschaftlich?
Absolut. Nicht nur im Radsport muss sich nach meinem Dafürhalten etwas ändern, sondern auch in der Gesellschaft. Diese Optimierungsmentalität, um nicht zu sagen, dieser Optimierungswahn: Es wäre besser, wenn wir uns davon befreien könnten.
Wie könnte das funktionieren?
Im Radsport würden intelligentere Dopingkontrollen helfen. Die rituellen Kontrollen nach den Rennen sind nicht viel wert, da erwischt man nur die Dummen. Man müsste viel gezielter unangemeldet im Training kontrollieren. So könnte man einem sauberen Sport näher kommen.
Und über den Sport hinaus hinaus?
Gesellschaftlich ist die Aufgabe viel schwieriger. Ich weiß nicht, wie wir von diesem ewigen Vergleichen, wer toller ist, wegkommen können.
Im PR-Text zum Buch heißt es: „Jan Ullrich schweigt. Max Witt erzählt seine ganze Geschichte: Als junger Radrennfahrer gewinnt er unerwartet die Tour de France“. Bei Schlüsselromanen kam es in den letzten Jahren oftmals dazu, dass die erkennbar Dargestellten die Veröffentlichung des Romans gerichtlich unterbunden haben.
Das ist natürlich eine Grundunsicherheit in diesem Genre. Ich habe Jan Ullrich den Text vorab geschickt und ihm damit die Möglichkeit eingeräumt, Einspruch zu erheben. Das hat er nicht getan. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass uns gerichtliche Auseinandersetzungen erspart bleiben.
Für das Buchbuchprojekt haben Sie ein Stipendium des Förderkreises Deutscher Schriftsteller in Baden Württemberg erhalten. Wie funktioniert das Ineinklangbringen von Schriftstellerei und dem Brotjob Journalismus?
Das Stipendium war in doppelter Hinsicht wertvoll. Zu einen war es eine Form der Anerkennung, dass eine Jury sagt: Jawohl, wir glauben an dieses Buch. Das hat Rückwind gegeben. Zum anderen hat mir das Geld geholfen, die Monate ohne Einnahmen zu überbrücken, da ich in der Zeit, in der ich an dem Roman geschrieben habe, nicht journalistisch arbeiten konnte. Von der Schriftstellerei kann ich im Moment nicht leben. Ohne den Journalismus könnte ich meine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllen.
Sie sind erst relativ spät belletristisch an die Öffentlichkeit getreten, was war und ist Ihre Motivation hierfür?
Als Journalist hat mich von Anfang an die Reportage am meisten gereizt. Sie gehört zu den erzählerischen Gattungen im Journalismus. Deshalb kam irgendwann der Wunsch, mich in der großen Währung des Erzählens zu versuchen, sprich: Einen Roman zu schreiben.
Sind neue Projekte Ihrerseits bereits absehbar?
Diesen Sommer führt die Tour de France erstmals über korsische Straßen. Bevor das Rennen beginnt, will ich die schönste Etappe auf der Insel vorfahren und eine Reportage schreiben, wie sich das anfühlt. Eine literarische Idee, die ich gerne verwirklichen möchte, hat mit einer Figur zu tun, die einen Gutteil der Menschheit in Bewegung gebracht hat. Ich finde es faszinierend, wenn Menschen in Bewegung sind. Dann lassen sich Motive und Befindlichkeiten viel plastischer und sinnlicher darstellen als in ruhendem Zustand.
Johannes Schweikle: “Ausreißversuch. Roman einer Karriere”, 208 Seiten, Klöpfer & Meyer, 20 Euro.

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Zum 100.Jubiläum wird die Tour de France, die am Samstag (29.Juni) startet, überschattet von diversen Dopingskandalen. ZEIT-Autor Johannes Schweikle legt mit “Ausreißversuch” einen Schlüsselroman vor, der -nach Jan Ullrichs ambivalenter Dopingbeichte dieser Tage besonders aktuell- die Frage nach dem Warum von Doping im Sport und darüber hinaus etwa mittels Schönheitsoperationen und Ritalin beleuchtet. Im Interview spricht der Reportage-Dozent an der Akademie der Bayerischen Presse in München (Jahrgang 1960) über Sündenböcke, Auswege aus dem Betrugssystem, Ausreißversuche im Radsport und wirklichen Leben.

An aktuellen Aufhängern fehlt es nicht. Dennoch die Frage: Was reizt Sie am Thema Doping im Radsport als Romanrahmen, wie kam es zum Buchprojekt „Ausreißversuch“?

Zum einen hat mich bei der so genannten Beichte von Lance Armstrong massiv gestört, dass das keine Beichte war, sondern ein Kratzen an der Oberfläche. Er hat nur zugegeben, was die ganze Welt schon wusste. Aber zu allem, was interessant wäre, wie er sein Betrugssystem perfektioniert hat, zu all dem hat er nichts gesagt. Es hat mich gereizt, hier in die Tiefe zu gehen.

Auch der deutsche Toursieger Jan Ullrich ist des Dopings überführt.
Da haben wir das zweite Motiv für meinen Roman. Als der Dopingfall Jan Ullrich in der deutschen Öffentlichkeit verhandelt wurde, hatte ich das Gefühl: Ihm wird Unrecht getan. Klar, er hat betrogen. Aber er wurde zum Sündenbock gemacht, er wurde dämonisiert, er musste den Kopf hinhalten für sehr viele andere. Das finde ich in hohem Maße ungerecht. Deshalb wollte ich mich mit diesem Stoff beschäftigen.

Wie bewerten Sie das lange Zeit beharrliche Schweigen von Jan Ullrich in Sachen Doping?

Ich würde ihm wünschen, dass er eine Form findet, sich zu erklären. Ich bin mir sicher, dass das gut für ihn wäre. Er könnte so seinen Frieden machen. Ich kann auf der anderen Seite aber auch sehr gut verstehen, dass er dies nicht tut. Durch den Medienzirkus geschleift zu werden und als reuiger Sünder im Fernsehen, den Zeitungen und Magazinen vorgeführt zu werden, das ist eine Rolle, die sicher nicht vergnügungssteuerpflichtig ist.

Wie haben Sie für den Roman recherchiert?

Ich betreibe seit vielen Jahren selbst Radsport. Von daher weiß ich in etwa, wie er sich anfühlt. Journalistisch habe ich schon des Öfteren über dieses Thema berichtet, große Rennen aus nächster Nähe miterlebt und mit diverse Rennfahrer porträtiert. Zur Recherche für dieses Buch habe ich gezielt Gespräche geführt mit Radprofis, Trainern und Managern. Das hat sich zur faktischen Grundlage verdichtet, die ich gebraucht habe, um eine tiefgründige Geschichte schreiben zu können.

Was waren Ihre eindrücklichsten persönlichen Erlebnisse in Sachen Radsport?

Ich habe einige Etappen der Tour de France live erlebt und darüber berichtet, etwa wie sich eine französische Provinzstadt für einen Tag komplett verwandelt, wenn die Tourkarawane einfällt und aus einem verschlafenen Provinznest plötzlich der Mittelpunkt der Radsportwelt wird. Ansonsten verfolge die Tour am Fernseher, vor allem die Bergetappen. Das ist großartiger Sport. Ich sitze regelmäßig vor dem Fernseher und schicke Gebeten gen Himmel: Bitte lass doch den, der da gerade eine tolle Leistung bringt, sauber sein. Dass ich mich wirklich begeistern kann. Es nagt halt immer der Zweifel, ob ich glauben kann, was ich da sehe.

Und aktiv?

Ich bin einige Etappen in Frankreich, von denen im Buch die Rede ist, schon selbst gefahren. Der Mont Ventoux ist ein erzählerischer Fixpunkt für den Roman – ich war schon mit dem Rad oben. Als ich in diese Mondlandschaft ohne jegliche Vegetation fuhr, habe ich ebenfalls ein Stoßgebet gen Himmel geschickt: Bitte jetzt kein Gegenwind. Die Steigung ist lang und unerbittlich, es gibt keine flachen Passage zum Erholen.
Ein großartiges Erlebnis war auch die Flandernrundfahrt. Sie gehört zu den klassischen Rennen des Radsports. Am Sonntag treten die Profis an, einen Tag vorher dürfen wir Hobbyradler auf der gleichen Strecke fahren. Im Belgien ist Radfahren Volkssport wie in Deutschland Fußball. Vor dieser Kulisse und der Begeisterung der Belgier selbst zu schwitzen, das ist genial.

Haben Sie gemäß dem Romantitel selbst einmal einen Ausreißversuch unternommen?

Wenn man mit Freunden eine Tour fährt, gehört dieses Kräftemessen dazu. Dass man versucht, den anderen davonzufahren und auszuloten, wer der Stärkste ist, das hat auch in der Ebene des Freizeitsports seine Faszination.

Und im übertragenen Sinne, in anderen Lebensbereichen?

Ich empfinde die künstlerische Aufgabe, einen Roman zu schreiben, durchaus als Ausreißversuch. Das ist ein Aufbruch ins Ungewisse. Auch hierbei weiß ich nicht, ob ich die Kraft und die Fähigkeiten haben, eine Idee zu Ende zu bringen. Vielleicht merke ich unterwegs: Das war zwar eine gute Idee, aber ich habe es zum falschen Zeitpunkt probiert oder der Gegenwind ist zu stark und ich muss irgendwann aufgeben. Da gibt es durchaus Parallelen zum Radsport.

In Ihrem ersten Roman „Fallwind“ über den Schneider von Ulm geht es ebenfalls um den Absturz eines zunächst Hochgejubelten. Was reizt Sie am Fallhöhephänomen und was sagt dies über die Gesellschaft aus?

Im „Fallwind“ geht es um ein Ereignis, welches im Jahr 1811 stattgefunden hat. Bei einer Lesung aus diesem Roman kam eine schöne Reaktion von einem Zuhörer. Er sagte: Das kommt mir gar nicht vor wie 1811, sondern wie wenn es heute wäre. Genau das ist es, was mich an diesem Thema reizt: Wie geht die Gesellschaft um mit Menschen, die etwas Besonderes wagen, sozusagen einen Ausreißversuch unternehmen?

Wie geht die Gesellschaft um mit diesen Menschen?

Wenn es klappt, ist ihnen der Beifall sicher, dann finden es alle toll. Wenn der Ausreißer scheitert, heißt es hinterher: Das haben wir gleich gewusst. Beim Schneider von Ulm sagte das Publikum: Wie kommt ausgerechnet ein Schneider dazu, das Fliegen zu probieren!? Genauso ist das auch im Sport. Man möge sich bitte erinnern, wie Jan Ullrich hochgejubelt wurde. Als klar war, dass er seine Leistungen nicht nur mit Apfelschorle und Müsliriegeln erbracht hat, wurde er in der gleichen Intensität verdammt.

„Willkommen im Club der Selbstoptimierer“, sagt Kathrin, die Freundin des Protagonisten Max Witt in „Ausreißversuch“. Kann man „Ausreißversuch“ auch als Denkanstoß verstehen, müsste sich etwas ändern, im Radsport und gesellschaftlich?

Absolut. Nicht nur im Radsport muss sich nach meinem Dafürhalten etwas ändern, sondern auch in der Gesellschaft. Diese Optimierungsmentalität, um nicht zu sagen, dieser Optimierungswahn: Es wäre besser, wenn wir uns davon befreien könnten.

Wie könnte das funktionieren?

Im Radsport würden intelligentere Dopingkontrollen helfen. Die rituellen Kontrollen nach den Rennen sind nicht viel wert, da erwischt man nur die Dummen. Man müsste viel gezielter unangemeldet im Training kontrollieren. So könnte man einem sauberen Sport näher kommen.

Und über den Sport hinaus hinaus?

Gesellschaftlich ist die Aufgabe viel schwieriger. Ich weiß nicht, wie wir von diesem ewigen Vergleichen, wer toller ist, wegkommen können.

Im PR-Text zum Buch heißt es: „Jan Ullrich schweigt. Max Witt erzählt seine ganze Geschichte: Als junger Radrennfahrer gewinnt er unerwartet die Tour de France“. Bei Schlüsselromanen kam es in den letzten Jahren oftmals dazu, dass die erkennbar Dargestellten die Veröffentlichung des Romans gerichtlich unterbunden haben.
Das ist natürlich eine Grundunsicherheit in diesem Genre. Ich habe Jan Ullrich den Text vorab geschickt und ihm damit die Möglichkeit eingeräumt, Einspruch zu erheben. Das hat er nicht getan. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass uns gerichtliche Auseinandersetzungen erspart bleiben.

Für das Buchbuchprojekt haben Sie ein Stipendium des Förderkreises Deutscher Schriftsteller in Baden Württemberg erhalten. Wie funktioniert das Ineinklangbringen von Schriftstellerei und dem Brotjob Journalismus?

Das Stipendium war in doppelter Hinsicht wertvoll. Zu einen war es eine Form der Anerkennung, dass eine Jury sagt: Jawohl, wir glauben an dieses Buch. Das hat Rückwind gegeben. Zum anderen hat mir das Geld geholfen, die Monate ohne Einnahmen zu überbrücken, da ich in der Zeit, in der ich an dem Roman geschrieben habe, nicht journalistisch arbeiten konnte. Von der Schriftstellerei kann ich im Moment nicht leben. Ohne den Journalismus könnte ich meine finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllen.

Sie sind erst relativ spät belletristisch an die Öffentlichkeit getreten, was war und ist Ihre Motivation hierfür?

Als Journalist hat mich von Anfang an die Reportage am meisten gereizt. Sie gehört zu den erzählerischen Gattungen im Journalismus. Deshalb kam irgendwann der Wunsch, mich in der großen Währung des Erzählens zu versuchen, sprich: Einen Roman zu schreiben.

Sind neue Projekte Ihrerseits bereits absehbar?

Diesen Sommer führt die Tour de France erstmals über korsische Straßen. Bevor das Rennen beginnt, will ich die schönste Etappe auf der Insel vorfahren und eine Reportage schreiben, wie sich das anfühlt. Eine literarische Idee, die ich gerne verwirklichen möchte, hat mit einer Figur zu tun, die einen Gutteil der Menschheit in Bewegung gebracht hat. Ich finde es faszinierend, wenn Menschen in Bewegung sind. Dann lassen sich Motive und Befindlichkeiten viel plastischer und sinnlicher darstellen als in ruhendem Zustand.

Johannes Schweikle: “Ausreißversuch. Roman einer Karriere”, 208 Seiten, Klöpfer & Meyer, 20 Euro.

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