Live, tagebook von Grün&Gloria

Von Teppichen und fremden Geburtstagen

Gruen und Gloria
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Ene, mene, muh und raus bist Du…

Nein, ich will jetzt nicht von Kinderspielen anfangen – aber treffender als mit diesem Auszählreim könnte man die Ausstellung drinnen und draußen – Neun Blicke auf die Gesellschaft nicht beschreiben. Das Thema Exklusion macht die Stiftung Nemetschek noch bis Sonntag mit Videoinstallationen, Fotografien und Teppichbildschirmen für alle zugänglich – ganz ohne Sprachbarrieren und Bildungsanforderungen.

Ich habe mir die Ausstellung angesehen und dabei das Gefühl bekommen, dass die Kunstwerke mehr über die Ausgrenzungsproblematik sagen, als ein Vortrag je vermitteln könnte. Hier sind meine Impressionen von drei eindrucksvollen Exponaten – und was den Rest angeht: bitte selbst ansehen.

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Rose Stach: Resistance

Wie zuhause, denke ich, als ich es mir so richtig gemütlich mache und immer tiefer in den Polstersessel sinke – mitten im Ausstellungsraum. Und so hat die Künstlerin Rose Stach schon bevor ich die Kopfhörer aufsetze ein bisschen was von ihrer Intention erreicht: Das Sichtbarmachen der Wechselwirkungen zwischen Öffentlichem und Persönlichem, zivilem Ungehorsam und privater Komfortzone. Auf einem Teppich – ein schöner Perser, der da wie ein Flachbildschirm an der Wand hängt – projiziert sie Aufnahmen von Demonstrationen. Verwirrend und bedrohlich wirken die entstehenden Bilder. Mal tritt die Projektion in den Vordergrund, mal das Muster des Teppichs. Und dann malt er wieder ein Muster auf die Uniformen, auf den ganzen Film. Aus den Kopfhörern tönt das dumpfe Geräusch von Schlagstöcken, ich sehe Polizisten, die an einem leblosen männlichen Körper zerren. Ob sie ihm helfen, jetzt wo er sich nicht einmal mehr wehrt, oder ob sie ihm wehtun, kann ich nicht erkennen – so sehr ich meine Augen auch zusammenkneife, immer wieder überlagert der Teppich an dieser Stelle die Aufnahmen.

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Andreas Peter Müller: Geboren am 01.01

In der Scherbe eines Spiegels betrachtet ein junger Afghane auf einer Aufnahme seine Wunden, Schnitte, die er sich selbst zugefügt hat. Es ist derselbe Junge, der das Loch in die Wand geschlagen hat, das eine andere Fotografie zeigt. Beide Bilder hängen direkt nebeneinander. Genau wie Aggression und Autoaggression, Enttäuschung, Angst und Hoffnung auf ein Leben in Freiheit bei den verunsicherten Flüchtlingen nah beieinander liegen.

Der 1. Januar irgendeines Jahres, für das sich fremde Menschen in einem fremden Land entscheiden… Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), die im Alter von 16 bis 18 Jahren ohne Familie nach Deutschland kommen, werden nach deutschem Asylrecht in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht. Wenn sie ihr Geburtsdatum nicht auf Papier nachweisen können, wenn sie es vielleicht selbst nicht kennen, dann wird nach einem demütigenden Verfahren ein fiktiver Tag bestimmt – meist der 01.01. des geschätzten Jahres. Ein Geburtsdatum, das nicht das Eigene ist.

Der Fotograf Andreas Peter Müller hat die Flüchtlinge über viele Monate hinweg begleitet, sie stammen aus Afghanistan und Somalia. In Großbuchstaben ragen die Gedanken der Jungen auf gelben Post-ist, die doch eigentlich für banale Dinge wie Einkaufs- und To-Do-Listen da sind. Die Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung haben sich dem Künstler anvertraut, der noch heute mit ihnen in Kontakt steht. „AM ERSTEN TAG WAR NICHTS BESONDERES AUßER DER ANGST ICH HATTE ANGST.“ Und „WIR SIND ASYLANTEN. ICH HABE KEINE PLÄNE VIELLEICHT SAGT MIR DIE REGIERUNG MORGEN DASS ICH WIEDER ZURÜCK GEHEN SOLL ICH HABE GAR KEINE PLÄNE.“ So fühlt es sich also an, abgelehnt zu werden, denke ich.

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Ergül Cengiz: O.T.

Frei hängen die Scherenschnitte der deutsch-türkischen Künstlerin Ergül Cengiz in kleinem Abstand voneinander im Raum. Sie ergeben ein wirres Bild, die Formen fließen ineinander. Egal aus welcher Richtung ich das Kunstwerk betrachte, die Menschen auf dem mittleren Scherenstich starren mich an – aber immer hinter einem Zaun aus Mustern. Als Vorlage verwendete die Künstlerin eine Fotografie von nordafrikanischen Flüchtlingen. Von der einen Seite liegt das Muster eines Maschendrahtzauns zwischen mir und den Menschen, etwas ganz Konkretes verwehrt mir den freien Blick auf sie. Wenn ich auf die andere Seite gehe, ist es das Muster der islamischen Girih-Kacheln – so wie der kulturelle und religiöse Hintergrund, das was wir selbst konstruieren, Menschen aus der Gesellschaft ausschließt?

Die Ausstellung läuft noch bis Sonntag, den 1. Dezember, immer von 14 bis 20 Uhr. Anschauen!

Alle Infos gibt es hier.

Was?: Ausstellung Drinnen und Draußen

Wann?: 21.11.2103, 19 Uhr

Wo?: Galerie Kullukcu & Gregorian, Schillerstraße 23

Wer?: Nemetschek Stiftung

Fotos von Julia Krüger/Stiftung Nemetschek

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