tagebook des Münchner Forums

Bahnhofs-Milieu

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Ein Bahnhof ist mehr als ein Haltepunkt für Eisenbahnzüge. Die Eisenbahn und ihre Bahnhöfe waren die großen Mitgestalter der Städte des 19. Jahrhunderts – und sind es nach wie vor, auch wenn sich ihre Betreiber ihrer Verantwortung dabei, wie es scheint, selten bewusst sind. Das aufkommende Eisenbahnwesen zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhöhte das Verkehrstempo sprunghaft und ließ die Städte zeitlich zusammenrücken. Die Trassen endeten am Rand der großen Städte in Kopfbahnhöfen – wie etwa in München, Frankfurt, Leipzig, z.T. Berlin, Wien, Paris –, vor den Kopfbahnhöfen öffnete sich die Stadt den ankommenden Passagieren. Oder die Schienenstränge wurden an der Stadt tangential vorbeigeführt, damals am Rand, heute im Zentrum gelegen, versehen mit einem Durchgangsbahnhof mit Möglichkeiten direkter Weiterfahrt. Die industrielle Revolution schaufelte die Menschen vom Land in die Städte. Die Eisenbahn stellte den Haupttransportweg; die Bahnhöfe waren die Schleusentore zwischen Land und Stadt. Sie mutierten zu den neuen Stadttoren; die herrschaftlichen Fassaden vieler Empfangsgebäude zeugen noch heute vom Selbstbewusstsein der Eisenbahn jener Zeit. Doch wer Bahnhöfe allein unter funktionalen Gesichtspunkten betrachtet, verkennt ihre Rolle als sozialer Ort, als Sozialraum und Knotenpunkt vielfältigen sozialen Handelns und sozialer Ereignisse.


Eingang Hauptbahnhof Nord

Eingang Hauptbahnhof Nord | Foto: Anja Milovanovic

Der Bahnhof ist – trotz der privaten Rechtsform der DB – im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor ein öffentlicher Raum und trägt als solcher alle Merkmale eines Ortes, der von Widersprüchen geprägt ist. Bahnhof ist ein Ort, an dem Ungleiches gleichzeitig stattfindet: Die strenge Ordnung der Regelungsabläufe des Zugverkehrs kontrastiert mit dem unübersichtlichen Gewimmel der Menschen; der Bahnhof ist ein Transit-, ein Durchgangsort und zugleich ein Ort des Verweilens, ein Sehnsuchtsort für Menschen mit Fernweh; ein Ort des Ankommens und des Wegfahrens; der Sammlung und der Zerstreuung; ein Ort für flüchtiges Kennenlernen und Treffpunkt für gezielte Kontakte; ein Ort, wo Massen von Menschen täglich ein-, aus- und umsteigen, aber wo man in der Anonymität der Masse unerkannt bleiben und untertauchen kann; ein Ort, wo vielfältige Servicedienste angeboten werden, die Kunden anziehen sollen, aber wo der reine Aufenthalt zum Aufwärmen und Zeitvertreib als Grund für die Vertreibung vom Bahnhofsgelände reicht; ein Ort, wo Menschen stranden und von wo andere aufbrechen, um fremde Orte zu erkunden. Die Realität des Bahnhofs ist: ein öffentlicher Raum, der gleichermaßen offen und stark reglementiert ist, ein Markt- und Umschlagplatz für die Bedarfe, Anforderungen und Nöte der verschiedensten Menschen und sozialen Gruppen. Und hier liegt wohl auch die besondere Faszination des Bahnhofs begründet: Er bündelt sichtbar und wahrnehmbar auf vergleichbar engem Raum vielfältige soziale und wirtschaftliche Handlungslinien und Interessen; er repräsentiert den Gegensatz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit: Dort die offene, die öffentliche Sphäre und hier die Regeln und Normen, die das private Leben formieren und denen man als Einzelner unterworfen ist.
Bahnhof ist auch ein Symbolort, auf den sich unterschiedliche Bilder und Erwartungen projizieren lassen, wo sich aber auch Gelegenheiten im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität bieten. Für die Polizei sind Bahnhöfe „kriminogene Orte“, also Lokalitäten und Milieus, die Kriminalität begünstigen – und dies nicht erst seit den Silvester-Vorfällen in Köln. Zumeist weiten sich diese kriminogenen Milieus auf das Quartier rund um den Bahnhof aus. Hier hat sich eine Melange aus touristischen und der Mobilität dienenden Einrichtungen, Kleingewerbe, Lokalitäten des Zeitvertreibs, Geldverleihern, Geldabzockern, Halbseidenem und eindeutig kriminellen Milieus ausgebreitet. Grenzziehungen bleiben schwierig.
Der Bahnhof als öffentlicher Raum und sozialer Erlebnisraum unterliegt, gerade weil er Knotenpunkt unterschiedlichster wirtschaftlicher und sozialer Interessen ist, selbstverständlich Veränderungen. Zu Zeiten, als die DB noch Deutsche Bundesbahn hieß, standen die Nutzerinteressen noch hoch im Kurs. Es ging um einen störungsfreien, pünktlichen Zugverkehr und zufriedene Bahnnutzer/innen. Die Bahnhöfe boten Warteräume nach Passagierklassen ohne Verzehrzwang, daneben Bahnhofsgaststätten und Reiseproviant an. Bei Hilfebedarf und in sozialen Notfällen konnte (und kann) man sich an die Bahnhofsmissionen wenden.

Eingang Hauptbahnhof Süd

Eingang Hauptbahnhof Süd | Foto: Anja Milovanovic

Die Bahnhofsmissionen in Deutschland, eine Organisation der katholischen und evangelischen Kirchen, bieten ihre Hilfe grundsätzlich jedem Bedürftigen an, auf über 100 großen Bahnhöfen in Deutschland – und das in München jeden Tag und rund um die Uhr, anonym und kostenlos. Das Hilfsangebot reicht von kleineren Hilfen (Pflaster kleben, Fahrplanauskünfte erteilen, Unterstützung beim Ausfüllen von Antragsformularen leisten) über Reisehilfen (ältere Menschen, Kranke und Behinderte, Transporthilfen für Menschen mit Kinderwagen, allein reisende Kinder) bis hin zu weiterweisenden sozialen Hilfen, etwa zur Vermittlung in Therapieeinrichtungen, an zuständige Behörden.
Die Bahnhofsmissionen wurden Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Sie entwickelten sich aus Schutz- und Hilfsvereinigungen von Frauen für junge Mädchen, die im Zuge der Industrialisierung vom Lande in die Städte zogen und dort ihren Lebensunterhalt als Arbeiterinnen in Fabriken oder als Dienstmädchen in Privathaushalten zu verdingen suchten. Vielfach gerieten sie an unseriöse Vermittler und landeten in ausbeuterischen Verhältnissen, wurden zur Prostitution gezwungen oder wurden Opfer des internationalen Mädchenhandels. In München eröffnete die aus Schweden stammende Frauenrechtlerin Ellen Ammann mit dem 1895 gegründeten „Marianischen Mädchenschutzverein“ im Jahr 1897 am Münchner Hauptbahnhof die erste katholische Bahnhofsmission in Deutschland, nachdem in Berlin 1894 die erste evangelische Bahnhofsmission gegründet worden war. Aus dem Beistand für junge Mädchen und Frauen bei der Ankunft in der großen Stadt entwickelte die Bahnhofsmission ihre Angebote um allgemeine Hilfen für Reisende. Bereits vor dem ersten Weltkrieg wurde die interkonfessionelle Kooperation der offenen sozialen Arbeit vereinbart und 1910 die „Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission“ (KKBM) gegründet. Schon 1912 gab es Bahnhofsmissionen in 90 Städten in Deutschland.
Im Zuge der Privatisierung der Bundes- zur „Deutschen Bahn“ änderten sich die Prioritäten. Statt hoher Nutzen wurden hohe Renditen oberstes Ziel, dem auch die Bahnhöfe – unternehmerisch zusammengefasst in der Bahn-Tochter DB Station&Service AG – unterworfen wurden. Seitdem werden die Großbahnhöfe – kleinere Bahnhöfe an Nebenstrecken wurden (und werden) verkauft, lässt man verkommen oder richtet sie als Selbstbediener-Haltepunkte zu – hinsichtlich ihrer Flächenrenditen „optimiert“. Bahnhofsumbauten und -neubauten sollen zusätzliche Flächen generieren und dienen der Refinanzierung – gut zu besichtigen etwa am Leipziger Hauptbahnhof. Aber auch die Um- und Einbauten der letzten Jahre im Münchner Hauptbahnhof zeugen von den bereits erfolgten Bemühungen, aus zusätzlichen Flächen Kapital zu schlagen. Der geplante Bahnhofsneubau setzt noch einen drauf. Da stehen dann natürlich Einrichtungen wie Bahnhofsmissionen im Wege, die Vorzugsflächen in Bahnsteignähe belegen. Und so hätte seinerzeit der Bahnvorstand Mehdorn gerne die Bahnhofsmissionen und ihre Klientel aus den Bahnhöfen verdrängt: „Die Leute von der Bahnhofsmission sind barmherzige und liebe Menschen. Aber wir wollen nicht mehr, dass sie eine Warmküche am oder im Bahnhof betreiben.“ Die Bahnkunden, so Mehdorn damals, sähen eben Junkies und Stadtstreicher nicht gerne neben sich. Die Bahnhofsmissionen und die sie tragenden evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland konterten, dass sich ihre Tätigkeit zunehmend auch mit den Folgen der Rationalisierungsmaßnahmen der DB auseinanderzusetzen habe, etwa weil die Bahnhöfe zunehmend mit Fahrkarten- und anderen Automaten ausgestattet wurden, die viele Reisende nicht bedienen konnten. Diese suchten dann Auskunft und Hilfe, die sie bei der Bahnhofsmission fanden, seltener bei den unter Personalabbau leidenden Einrichtungen der DB. Die Bahnhofsmissionen konnten bleiben.
Dass soziale Unterstützungseinrichtungen an Bahnhöfen notwendig sind und keinen unnötigen „Sozialklimbim“ darstellen, hat die Aufnahme der Vielzahl der Flüchtlinge und Migranten und ihre Erstversorgung erst letztes Jahr gezeigt. Ohne Bahnhofsmissionen und unzählige freiwillige Helfer wäre diese kritische Situation nicht zu bewältigen gewesen. So wie auch Jahrzehnte zuvor: Auch der Empfang der von den deutschen Unternehmen nachgefragten, per zwischenstaatlichen Verträgen angeworbenen Arbeitskräfte („Gastarbeiter“) aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, der Türkei und anderen südeuropäischen Ländern in den 1950er und 60 Jahren (bis zum Anwerbestopp 1973) am Münchner Hauptbahnhof und ihre Registrierung in den Katakomben unter dem Bahnsteig 11 konnte nur durch den Einsatz von sozialen Diensten wie Bahnhofsmission und Caritas halbwegs sozialverträglich organisiert werden.
Auch mit einem Neubau des Münchner Hauptbahnhofs werden sich die unterschiedlichen sozialen Anforderungen von Bahnnutzern und anderen Passanten nicht funktionalisieren und „wegdrücken“ lassen, selbst wenn dies den Betreibern der Bahn gelegen käme. Nutzungen suchen sich ihre Räume… Deswegen wird darauf zu achten sein, dass auch der neue Hauptbahnhof ausreichend Flächen und Räume vorsieht, auf/in denen soziale Dienste tätig werden können – die Bedarfe danach werden eher steigen als sinken.

Detlev Sträter

Dr. Detlev Sträter ist Programmausschuss-Vorsitzender des Münchner Forums.

Dieser Text ist auch in der April-Ausgabe der Standpunkte erschienen.

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