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Eine Nacht in München #OEZ

Karsten Lohmeyer
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Was für eine Nacht. Sie beginnt, als mein Kollege Mo Schei die Eilmeldung zu den Schüssen im OEZ liest. Wir verfolgen auf Twitter und Periscope die Ereignisse vor Ort, als sich meine Frau meldet. Sie ist fertig mit der Arbeit und will eigentlich nach Hause. “Bleib wo Du bist!”, schreibe ich per Whatsappp – und mache mich auf den Weg. Die U-Bahn hat da den Betrieb schon eingestellt. Also laufe ich von der Universität zur Oper, wo meine Frau in einem Spa arbeitet.
Noch scheinen die wenigsten Menschen etwas von dem Vorfall mitbekommen zu haben. Am Odeonsplatz wird gefeiert, eine Band spielt. Erste schwer bewaffnete Polizisten tauchen auf. Ich laufe weiter und betrete das Spa. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt bricht draußen eine Panik aus. Menschen laufen durcheinander, in alle Richtungen. Keiner weiß genau, wovor er wegläuft – und vor allem nicht wohin.

Plötzlich stehen Menschen vor der Tür

Vor der Glastür im dritten Stock stehen plötzlich Menschen. Eine kleine türkische Familie mit einem Kleinkind im Kinderwagen. Zwei Männer, eine Frau. Die Frau trägt Kopftuch und hat panische Angst. Wir bitten sie herein. Sie sind so dankbar, erfragen von uns, was passiert ist – und teilen ihre Wegzehrung, Nüsse und türkische Kekse, mit uns.
Dann plötzlich noch mehr Menschen im Treppenhaus. Eine kleine italienische Reisegruppe, Teenager und ein Betreuer/Vater der offensichtlich indische oder pakistanische Wurzeln hat. Sie sind erst vor wenigen Stunden mit dem Bus aus Italien gekommen, auf der Durchreise nach Polen. Keiner weiß, was passiert ist.
Dann kommt eine ältere Dame aus dem Münchner Vorort Haar. Sie ist gestrandet und hat ihr Handy zuhause vergessen. Die Nummer ihrer Tochter hat sie nicht, auch keine Idee, welche Nachbarn oder Freunde wir informieren können, dass es ihr gutgeht. Für ihre Angehörigen wird es wohl eine ebenso unruhige Nacht werden wie für uns. Mit ihr kommt eine Familie aus dem Schwäbischen. Mutter, Vater. Tochter. Sohn. Sie haben sich ebenfalls in das Treppenhaus geflüchtet. Der Freund der Tochter studiert in München, versucht die Familie jetzt mit einem Drivenow-Auto abzuholen – doch es hat kein Benzin mehr im Tank.

Der Twitterkanal der Polizei wird unsere Newsquelle

Ich versuche die bunt gemischte Gruppe, die sich auf den Sofas und Sesseln im Wartezimmer des Spas versammelt hat, so gut es geht aufs Laufende zu bringen. Auf Deutsch und Englisch erkläre ich ihnen, was aktueller Stand ist. Meine Informationsquelle ist der Twitterkanal der Polizei München. Deren Informationen erachte ich als einzige als vertrauenswert – BR und andere Medien sind da nur Sekundärquellen. Meine Frau und die Kolleginnen aus dem Spa reichen Wasser und ein paar Süßigkeiten.

Auf Facebook zeige ich, wie sehr mich unsere kleine Schicksalsgemeinschaft beeindruckt.
Ich blicke regelmäßig durch ein Fenster auf die Straße. Ich sehe Menschen, die vorbeilaufen, als wäre nichts passiert. Ich sehe solche Szenen: Ein paar Männer in Lederhosen torkeln durch die leere Straße und singen laut. Eine Fahrradfahrerin mit Kopfhörern im Ohr radelt vorbei. Ein Trupp von Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag bewegt sich Richtung Odeonsplatz.
Auf Twitter verbreite ich den Hashtag #offenetür sowohl für unsere kleine Zufluchtsstätte als auch für The Digitale wo meine Kollegen Peter Bilz-Wohlgemuth und Mo Schei festsitzen und bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen. Aus Belgien meldet sich eine völlig verzweifelte Frau. Ihr Freund ist in München und hat sich dort ebenfalls in einen Hausgang geflüchtet. Ich bin skeptisch. Die Frau hat weder ein erkennbares Twitter-Profilbild noch relevante Follower oder Tweets – und die Tweets sind auf arabisch oder türkisch. Ich schreibe ihr, dass ich Bedenken habe und sie schickt mir ihr Facebook-Profil und das ihres Freundes. Daraus kann ich aber auch wenig erkennen. Ich gebe ihr meine Handynummer aber nicht unsere Adresse. Ihr Freund soll sich bei mir melden.

Ein Ausschnitt aus dem Gespräch mit der Belgierin.

Vier junge Männer suchen Zuflucht

Kurze Zeit später klingelt mein Handy. Der Freund ist dran. Er hat einen arabisch klingenden Namen, ist Student und ist mit drei weiteren Freunden in der Nähe, sein Handydakku ist bald leer. Was soll ich tun? Die vier jungen Männer einfach in unser kleines Safehouse einladen? Eventuell die Sicherheit der Menschen riskieren, die hier mit uns ausharren? Ich lotse ihn zu einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vom Fenster aus kann ich ihn und seine drei Freunde beobachten. Sie sehen nicht gefährlich aus, zumindest haben sie keine gezückten Waffen und sind auch unbehelligt an den Polizeiautos vorbeigekommen, die vor der Oper stehen.
Also gehe ich runter und unterhalte mich mit ihnen. Sie sind verwirrt. Junge, sympathische Menschen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Aber die Situation scheint inzwischen durch die starken Polizeikräfte so unter Kontrolle, dass sie sich entscheiden, nach Haus zu laufen. So weit ist es nicht. Ich lasse sie gehen. Über Twitter sage ich der Belgierin Bescheid, dass ich ihren Freund getroffen habe. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das Richtige getan habe und die vier jungen Männer vielleicht doch hätte mit nach oben nehmen sollen. Aber ihr reicht es offensichtlich, dass sich jemand mit ihnen getroffen hat. Sie schreibt “World will get better with people like you”.

Auch andere melden sich auf den Tweet.

Die ersten Zufluchtsuchenden verabschieden sich

Je mehr sich die Situation um uns herum zu beruhigen scheint, umso wichtiger wird die Frage, wie es weitergeht. Die türkische Familie erzählt mir, dass sie ihr Auto nur wenige Meter entfernt in der Tiefgarage der Oper geparkt haben. Da ich gerade aus dem Fenster beobachtet habe, dass Opernbesucher in großer Zahl mit ihren Autos aus der Garage gefahren sind, halte ich es für sicher, wenn sie zu ihrem Auto laufen. Die junge Frau möchte mit ihrem Kind die paar Meter trotzdem nicht gehen. Die beiden Männer holen deshalb alleine das Auto. Als sie wieder kommen und die Frau und das Kind mitnehmen, zeigen sie uns noch einmal ihre große Dankbarkeit, verabschieden sich herzlich. Die Kekse und Walnüsse lassen sie uns da.
Dann meldet sich der Busfahrer der italienischen Reisegruppe. Er holt sie direkt um die Ecke ab. Auch sie gehen mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Erleichterung.

Die “Vorsichtige Entwarnung” der Polizei München.
Inzwischen ist es ein Uhr nachts, kurz bevor die Polizei München um 1:26 Uhr “Vorsichtige Entwarnung” twittert. Wir beschließen, die Nacht im Spa zu verbringen. Die Kollegen aus dem Spa kümmern sich rührend um uns. Die vierköpfige Familie kommt im Yoga-Raum unter, Susan vom Spa legt eine extra Matratze auf dem Boden aus. Alle bekommen schwarze Spa-Uniformen zum Schlafen. Die ältere Dame aus Haar darf in einem Behandlungsraum schlafen. Ebenso wie meine Frau und ich, die einen Kosmetikraum belegen.

Unsere Schicksalsgemeinschaft hat funktioniert

Um etwa halb Sieben sind wir wieder wach. Ich habe während der unruhigen Nacht immer wieder Twitter und die Newsseiten der regionalen Medien gecheckt. Weiß spätestens nach der Pressekonferenz der Polizei, dass die Lage wieder sicher ist – und auch die Bahnen wieder fahren.
Um kurz nach 8 sind wir zuhause und ich schreibe diesen Text. Warum? Weil ich es mir von der Seele schreiben muss. Und weil ich unsere kleine Geschichte auch als Beweis dafür sehe, wie unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Herkunft durch das Schicksal zu einer Gemeinschaft werden – und es dabei völlig egal, welche Hautfarbe oder Religion die einzelnen haben.

Fotocredit: Twitter-Screenshot @LousyPennies

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