Aktuell, Kultur

“Mut zur Hässlichkeit!” – Ein Blick hinter die Kulissen von “Short Eyes”

Caroline Giles

“Naja…mir ist das einfach unangenehm.” Der junge Mann aus Nigeria schaut betreten. Er ist heute, an diesem verregneten Samstagnachmittag, zum Casting für das US-amerikanische Gefängnis-Drama “Short Eyes” erschienen. Eben noch hatte er sich an einer Szene versucht, die ihm anscheinend gehörig gegen den Strich ging. In einem sexuell expliziten Monolog soll seine Figur ihren “Mitinsassen” eine Masturbations-Phantasie schildern. Der Monolog hat zwar eher humoritsische Untertöne, aber kostet dennoch Überwindung. “Ich finde das einfach… unnatürlich.”, fügt er verlegen hinzu.

Allen beteiligten wird schnell klar, dass das wohl nichts wird – die eben geprobte Szene gehört immerhin zu den vergleichbar harmlosen des Stückes. Mit einem warmen Händedruck verabschiedet er sich von Regisseurin Azeret Koua.

Wie schaffe ich es, mich, meine eigenen Prinzipien, meine eigene Identität von der Figur zu trennen, die ich verkörpern soll? Es ist wohl eine Frage, die sich jeder Schauspieler im Laufe seiner Karriere mindestens einmal – wahrscheinlich aber eher bei jeder einzelnen Produktion – stellen muss.

Miguel Piñeros “Short Eyes” macht es Schauspielern dabei nicht besonders leicht. Der Autor saß selbst jahrelang im Gefängnis. Wieder auf freiem Fuß, beschloss er seine eigenen Erfahrungen in all ihrer Brutalität festzuhalten. Clever und mit einer ordentlichen Prise schwarzem Humor analysiert er die komplexe Dynamik zwischen den verschiedenen ethnischen “Prison-Gangs”. Diese empfindliche Dynamik wird nun durch einen Neuankömmling gestört: denn der Neue ist nicht nur weiß, sondern auch ein Pädophiler. Piñeros geht durchaus um die Provokation, aber nicht nur um zu provozieren, sondern um der US-amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor die hässliche Fratze zu halten. Er wirft ein grelles Licht auf eine Welt, vor der wir sonst nur allzu gerne die Augen verschließen würden: Rassismus, sexuelle Übergriffe, Gewaltexzesse, menschliche Abgründe.

Regisseurin Azeret Koua

“Generell würde ein bisschen mehr Diversität der Münchner Theaterszene gut tun.”

Genau deshalb hat sich Azeret, die Theaterwissenschaft studiert, jedoch dazu entschieden, das Stück hier in München als Produktion der Studiobühne der LMU auf die Bühne zu bringen. Azeret ist selbst US-Amerikanerin aus dem mittlerweile verarmten Detroit, und hat ihre Wurzeln zudem an der Elfenbein-Küste. Als junge afro-amerikanische Frau ist die Regisseurin hier in München in der absoluten Minderheit. “Generell würde mehr Diversität der Münchner Theaterszene gut tun.”, gibt sie zu bedenken.

Sie hat recht – schaut man sich in der Münchner Theaterszene um, wird ziemlich schnell klar, dass der überwiegende Teil der Regisseure exakt zwei Dinge sind: männlich und weiß. In ihren Produktionen geht Azeret unter anderem deshalb besonders auf gesellschafts-politische Thematiken wie Diskrimination und Vorurteile ein. Die Studiobühne der LMU war von ihrem Engagement und ihrem Vorhaben so begeistert, dass sie die Produktion von “Short Eyes” finanziert.

Die fertige Produktion ist am 18./19./20. November im HochX , einer Spielstätte für Theater und Live Art, zu Gast. Sponsoren finden, Skript überarbeiten, Castings organisieren, proben, proben und nochmals proben. Der Weg von der Idee zur Premiere im Theater ist lang. Aber zurück zum Anfang: nachdem die Studiobühne grünes Licht für die Produktion gegeben hat, heißt es nun also eine passende Besetzung für die sieben Sträflinge in “Short Eyes”zu finden.

“Ein bisschen Mut zur Hässlichkeit!”

Es ist ein regnerischer Tag im Juli. Azeret, Regie-Assistenz Lois Schofield, Dramaturg Max Stark und Schauspieler Jared Witbeck sitzen an diesem Sommernachmittag zusammen draußen bei einer Zigarette. Die kleine Raucherpause gleicht fast schon einem Ritual: jetzt gilt es nochmal die eigenen Gedanken zu sammeln, die mentale Check-Liste durchzugehen, Prioritäten zu setzten. Die kleine Truppe ist mittlerweile ein eingespieltes Team, gemeinsam haben sie schon so einige Theaterproduktionen erfolgreich auf die Beine gestellt.

“Wie kann man Azeret als Schauspieler eigentlich beeindrucken?” Lois, die jetzt als Regie-Assistenz für “Short Eyes” mit Azeret zusammen arbeitet, hat selbst einmal in einem von Azerets Stücken als Schauspielerin mitgewirkt. Die langen braunen Haare fallen der jungen Frau ins Gesicht. Wie man Azeret beeindrucken kann? Sie schmunzelt. “Naja, wenn man ein bisschen Mut zur Hässlichkeit hat! Wer ihre Stücke kennt, kann eines mit Sicherheit sagen: da sind schon echt hässliche Sachen dabei!” Azeret lacht schallend, zustimmend.

Bei der Zusammenarbeit mit jungen Schauspielern sind ihr vor allem drei Dinge wichitg: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Kreativität. “Mir ist es außerdem extrem wichtig, dass ich mit dem Kandidaten menschlich auf einer Wellenlänge liege. Sexisten, Rassisten und Homophobe haben bei mir schlechte Karten!” Es wird Zeit die Pause zu unterbrechen – und dem Sommerregen zu entkommen. Drinnen, im Proberaum der Edmud-Rumpler-Str. 9, ist es zum Glück trocken. Der kleine Raum im Erdgeschoss – schwarze Wände, schwarzer Boden, schwarz-gestrichene Stühle – bietet trotzdem eine heimelige Atmosphäre. Nachdem die allerletzten Vorbereitungen getroffen sind, wird es Zeit die Casting-Kandidaten unter die Lupe zu nehmen.

Die “boys” bei der Probe

Obszönitäten, Brutalität, Grenzüberschreitungen

Kandidat Nummer eins, ein junger Pakistaner, der über beide Ohren strahlt, verletzt schon einmal Azerets heilige erste Regel: er kommt zwanzig Minuten zu spät – kein guter erster Eindruck. Die beiden Texte (eine der bekanntesten Reden von Malcolm X, sowie die bereits erwähnte sexuell-explizite Masturbations-Szene) hat er leider nicht dabei – und wohl auch nicht gelesen, geschweige denn vorbereitet. Unzuverlässigkeit: ein Problem, mit dem sich wohl vor allem junge Theatermacher oft herumschlagen müssen. Er bemüht sich, liest die Rede mehrmals vor, doch mit Schauspielerei hat das ganze wenig zu tun. Azeret und der Rest der Crew sind trotzdem froh, dass er gekommen ist. Nicht nur weil er ein netter Kerl ist, sonder auch, weil selbst blutige Anfänger die Chance bekommen sollen, sich einmal kreativ zu erproben.

Kandidat Nummer zwei, ein zurückhaltender, freundlicher junger Mann aus Nigeria, gut gekleidet in schickem Hemd und Brille, ist pünktlich – die Rede des amerikanischen Bürgerrechtlers meistert er mit Bravour. Die berüchtigte “Masturbations-Szene” – die in der überarbeiteten Version übrigens Ivanka Trump zum Objekt der Begierde macht – bringt ihn jedoch ins Stocken. Er liest den Text, er versucht sich in die Rolle hineinzufinden – doch man merkt ihm an, wie unangenehm ihm die Siuation ist. Mehrmals muss er entnervt schnauben, bricht mitten im Satz ab, windet sich auf seinem Stuhl. Obszönitäten, Brutalität, Grenzüberschreitungen. Die Thematiken des Gefängnis-Dramas sind nichts für schwache Nerven, und nichts für Schauspieler, die sich nicht vollkommen fallen lassen können – oder wollen.

Kandidat Nummer drei, ein junger Londoner mit jamaikanischen Wurzeln, seine Dread-Locks zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, ist ebenfalls pünktlich und hat sich auf das Casting bestens vorbereit. Er vereint schauspielerisches Talent, Professionalität und Enthusiasmus. Die “Short Eyes” Crew ist sich schnell einig: Jackpot!

Eine empfindliche Balance zwischen Kreativität und Disziplin

November: Über drei Monate und viele intensive Proben später, stehen die letzten Durchläufe an. Nachdem die Schauspieler einzeln und in kleinen Gruppen in den letzten Monaten vor allem ihre eigenen Parts geprobt haben, um so ihre Charaktere kennenzulernen und individuelle Schwierigkeiten zu überwinden, werden die einzelnen Szenen und Akte in diesen letzten Durchläufen endlich zum großen Ganzen zusammengesetzt: der “Rohdiamant” wird sozusagen in Form geschliffen, der Premierenabend bis ins kleinste Detail durchgeprobt.

Es ist Wochenende, aber für Crew und Cast gibt es so kurz vor der Premiere nun mal keine Auszeit. An diesem Abend ist es zwar wenigstens trocken, dafür aber bitterkalt. Der Winter hat München erreicht und hält die Stadt in seiner eisigen Umarmung fest gefangen. Nach und nach trudeln die “Gefängnis-Insassen” im warmen Proberaum ein. Die Stimmung zwischen den “boys”, wie Azeret sie manchmal nennt, ist freundschaftlich, ausgelassen, fast schon etwas überdreht – klar, die Aufführungen finden ja schon in weniger als einer Woche statt, das lässt selbst den erfahrensten Schauspieler nicht komplett kalt.

Auch Dani, der junge Mann aus London, der beim Casting nicht nur durch sein Können, sondern auch seine Liebe zur Schauspielerei geglänzt hat, ist mit dabei. Er konnte die Rolle des harten Burschen “Ice” ergattern. Sein Lachen hallt durch den ganzen Raum, während die Jungs sich mit kleinen Aufwärm-Spielen (“Ha He Ho” und “Zip Zap”) auf die große Probe vorbereiten. Es ist diese empfindliche Balance aus Kreativität und Disziplin, auf die Azeret stets ein wachsames Auge werfen muss. Dass sie deshalb vielleicht manchmal als “Spielverderberin” angesehen wird, nimmt sie mit Humor.

20161016_shorteyes_rehearsal_1_lredit_websize10244

Die “Latinos”: Paco Pasqual (Danijel Szeredy) und Juan Otero (Rodrigo Arredondo Parra)


I like the way you work it, no diggity, I got to bag it up, bag it up.

Bevor es auf die Bühne im HochX geht, werden nun noch ein letztes Mal die musikalischen Parts des Stücks im vertrauten Proberaum eingeübt und optimiert. Diese müssen ganz besonders gut sitzen, damit sie sich auch wirklich nahtlos in das restliche Stück einfügen. “I like the way you work it, no diggity, I got to bag it up, bag it up.“ Eine dieser musikalischen Einlagen ist eine Cover-Version von Blackstreet’s 90er R&B Hit “No Diggity”. Der spontane musikalische Ausbruch der Figuren auf der Bühne ist für die Schaupieler in zweierlei Hinsicht besonders anspruchsvoll: Sie müssen nicht nur – vollkommen ohne Instrumente – den Song performen, sondern auch die aggressive, sexuell-aufgeladene Atmosphäre zwischen den jungen Insassen glaubhaft darstellen.

Schauspieler Amedeo Gonnella, groß, mit braunen Haaren, braunem Bart, braunen Augen, hat unter anderem schon an Produktionenen im hippen Londonder Etcetera Theatre (“Road Safety”) sowie in Stratford upon Avon (Shakespeare’s “The Merchant of Venice”) mitgewirkt. Er widmet sich einer der besonders anspruchsvollen Rollen des Stücks: Julio Mercado, aka “Cupcakes”, ist der jüngste der Gefängnis-Clique – und muss sich regelmäßig gegen sexuelle Übergriffe zur wehr setzten. “Anfangs findet mein Charakter, ‘Cupcakes’, die Aufmerksamkeit, die die anderen Insassen ihm schenken noch ganz gut – aber leider verändert sich diese Aufmerksamkeit bald, und schlägt in sexuelle Aggression um. Diese Szenen waren für mich persönlich besonders schwierig zu spielen. Am bereicherndsten ist für mich die “Rap-Szene” – hier hat Cupcakes völlig die Kontrolle über die anderen Charaktere und steht im Mittelpunkt!”

Was hält die Zukunft bereit?

Vor der Probe erwische ich Regisseurin Azeret noch einmal kurz alleine vor dem modernen, quadratischen Gebäude in Freimann, welches in den letzten Monaten wohl zu einer Art zweiten Zuhause geworden ist. Drinnen, im Probenraum, ertönt lautes Gelächter. Azeret ist aufgeregt aber müde – die Produktion eines Stückes bedeutet besonders für junge Theatermacher in München eine 60+ Stunden Woche, denn alle Beteiligten arbeiten oder studieren eigentlich. Für die Produktion des Theaterstückes opfern sie alle ihre Freizeit.

Was erhofft Azeret sich für die Zukunft – für sich selbst, aber auch für die freie Theaterszene in München? “Naja, ich habe ja gar nicht vor reich zu werden – aber ich würde gerne angemessen viel verdienen, so viel, dass ich davon leben kann. Ein Schreiner würde doch seinen Tisch auch nicht umsonst verkaufen!” Außerdem hofft sie, dass auch auch München, die “Weltstadt mit Herz”, das große Potential von international-ausgerichteten Theaterproduktionen irgendwann mehr zu schätzen weiß.

In “Short Eyes” ist das Experiment “Diversität” mehr als geglückt: Dani aus London, Jared aus Portland, Danijel aus Neapel, Makrand aus Indien – eine Gruppe junger Menschen, die sich sonst vielleicht nie begegnet wären. Von drinnen schallt weiterhin das Lachen zu uns nach draußen. Zurück im Proberaum schwindet all die Unruhe, die Plaudereien, das Gelächter mit einem Mal knisternder Konzentration – und dann beginnt er endlich, der Durchlauf des kompletten Stückes. Die eineinhalb Stunden vergehen wie im Fluge. Alle “boys” sind hochkonzentriert – von der ersten bis zur letzten Szene sind sie nun New Yorker Gefängnis-Insassen. Selbst in der Probe ist das Stück energiegeladen, eindringlich und very entertaining – mehr soll an dieser Stelle aber noch nicht verraten werden!

Wer auf den Geschmack gekommen ist und selbst einmal einen Abend in einem New Yorker Gefängnis verbringen möchte, dem seien die Aufführungen von “Short Eyes” am 18./19./20. November im HochX wärmstens ans Herz gelegt!


In aller Kürze:

Wann: 18./19./20. November 2016
Wo: HochX
>> Tickets <<


Fotos: Karina Garosa

No Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons