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Achim und die Samstagskrankheit

Philipp Bovermann
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Von Fans des TSV 1860 München kann man eine Menge über das Leben lernen. Klingt komisch? Ist es auch. Wir haben Achim „Sechzig“ Bogdahn, „Zündfunk“-Moderator und der vielleicht lustigste Fan der Stadt, zum Abstiegskampf ins Stadion begleitet.

Von Philipp Bovermann und Benedikt Mahler

Mit Spaß hat das nichts zu tun. Durch den Nieselregen, von der U-Bahn her kommend, schiebt sich der Menschenstrom den Aufmarschweg hinauf und an der Einlasskontrolle vorbei durch die Gitter. Männer, die grimmig und sorgenvoll vor sich hin starren, während sie die Arme heben, um sich die Leiber nach verbotenen Gegenständen abklopfen zu lassen. Männer in weiß-blauen T-Shirts, mit weiß-blauen Schals. Polizisten mit Schlagstöcken stehen Spalier. Der gigantische Rundbau voraus verströmt eine betonschwere Stille. Als ginge es zu einer Beerdigung, bei der man eventuell eine aufs Maul bekommt.

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Samstagskrankheit

Der Schriftsteller Nick Hornby nannte es seine „Samstagskrankheit“. Wer Fußball liebt – genauer: wer notorisch von Schlappen und Blamagen geplagte Fußballvereine wie den TSV 1860 München liebt – geht nicht ins Stadion, um tollen Fußball zu sehen und eine gute Zeit zu haben. Er hat, wie Achim „Sechzig“ Bogdahn, irgendwann ein „Erweckungserlebnis“. Und pflegt fortan eine lebenslange Beziehung mit dem Verlieren, die so überhaupt nicht in unsere „Läuft bei mir“-Zeit zu passen scheint.

“You’ll Never Walk Alone”

Heute, gegen Bochum, singen etwa 40 000 Besucher zusammen „You’ll Never Walk Alone“ und halten die Schals ausgestreckt über die Köpfe. Wegen des Abstiegskampfs sind verhältnismäßig viele Fans angereist. Es gibt auch Spiele, bei denen das gewaltige, für einen Zweitligisten völlig überdimensionierte Stadion so gut wie leer bleibt. Dann ist es hier draußen gespenstisch. „Arroganz Arena“ nennen die Fans der Löwen die „Allianz Arena“. Sie gehört dem FC Bayern. Sechzig spielt hier nur zur Miete, ausgerechnet beim Erzrivalen. Und dann ist da noch dieser dicke jordanische Investor, der alleinherrlich die Kontrolle über den Traditionsverein an sich zieht. Schlimmer könnte es gar nicht sein. Vor einem der Automaten, an denen man seine „Arena Card“ aufladen kann, weil es anders kein Bier und keine Bratwurst zu kaufen gibt, steht ein Mann mit glasigen Blick vom Vorglühen und schüttelt den Kopf. „Kaputt“, sagt er. „Passt zu uns.“

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Anpfiff.

Sechzig braucht dringend diesen Sieg und macht von Beginn an Druck. Aber die Mannschaft wirkt nervös. Bälle werden verstolpert, Chancen ungenutzt liegengelassen. Nach einer halben Stunde schießt Bochum das erste Tor.

Bogdahn hat auf dem Weg ins Stadion ein Foto von den schwarzen Gewitterwolken gemacht. Jetzt steht er im Oberrang, neben Männern, die fast teilnahmslos beobachten, was sich da schon wieder zusammenbraut, nur gelegentlich flucht einer leise vor sich hin. Viele von ihnen sehen aus, als quälten sie sich seit mindestens zehn Jahren durch jeden miesen Kick in jeder Saison. Ein Alter hat das Käppi tief ins Gesicht gezogen und den Kragen seiner Jeansjacke aufgestellt. Seine Wangen sind hohl, weiß-blaues Blut pumpt durch den fröstelnden Körper. Wäre er der Verein, müsste man sagen: Er wird den Winter wohl nicht überstehen. Daneben zwei kleine Jungs in Trikots mit ihrer Mutter, die schweigend, aus zusammengekniffenen Augen, das Spiel verfolgen. Wenn man ihrem konzentrierten Blick folgt, bekommt man den Eindruck, sie sähen auf dem Spielfeld dem Ernst des Lebens ins Gesicht – als dämmerte ihnen aus all den Fehlpässen, den verlorenen Zweikämpfen, den schlechten Laufwegen, den verschossenen Eckbällen und Strafstößen eine unbarmherzige Lektion entgegen, die buddhistische Essenz der Welt als Schicksalszusammenhang. Bogdahn, unerschütterlich gut gelaunt, formuliert es so: „Misserfolg ist eigentlich der Normalzustand.“

Verliererfans und Niederlagen

Anders als es einem allerorten Business Coaches empfehlen, sieht ein echter Verliererfan Niederlagen nicht als Chancen zur Selbstoptimierung. Er lässt sie nicht gestärkt hinter sich, sondern vertieft sich in sie wie in ein Buch. Bis er es irgendwann in all seiner grotesken Tragik nicht mehr ernst nehmen kann und sich zu amüsieren beginnt. Bogdahn klopft munter Sprüche. Er sagt, es gebe „eine fortlaufende Linie von Hiob bis zum TSV 1860 München“ und freut sich für die „Anheizer“ unten in der Fan-Kurve, die auf dem Zaun sitzen und mit Megaphonen in den Block hinein brüllen. „Die müssen wenigstens das Spiel nicht sehen.“

In der Halbzeitpause wird er, Sohn eines Pfarrers, religiös. Das Fan-Dasein sei eine komplett unökonomische Angelegenheit, „ein Wunder“. Investierte Leistung und erhaltene Gegenleistung stünden nämlich in überhaupt keinem Verhältnis. Man sieht es auf dem Weg zum Bratwurstverkauf in den Gesichtern all dieser Menschen, die Geld bezahlt haben, um sich wieder einmal über die verehrte Gurkentruppe aufregen zu dürfen: Die Rechnung geht nicht auf. In emotionaler Hinsicht befinden wir uns außerhalb der kommerziellen Sphäre. Für schlechte Laune gibt’s keine Likes auf Instagram. Hier hingegen versucht niemand so zu tun, als sei das Leben ewig eitel Sonnenschein. Man schiebt sich in einer Schlange an den Bierausschank, zahlt 4,10 Euro für ein „leichtes“, mit anderen Worten wässriges Helles, dann quetscht man sich im Tross weiter durch das Klo, auf der einen Seite rein, auf der anderen wieder raus, wie Kühe in der Melkmaschine, und genau so fühlt man sich auch. Hier gibt es keine Pseudo-Exklusivität, sondern nur einen grantigen Spruch, wenn man sich vordrängelt.IMG-20170529-WA0002

Auf dem Spielfeld das Gleiche.

„Man erwartet nichts. Und bekommt noch weniger“, sagt Bogdahn, zurück auf den Plätzen. Aber genau darin besteht schließlich echte Treue: Sie geht in einer Kosten-Nutzen-Rechnung nicht auf. Wer nur solange treu ist, wie der andere emotional liefert, ist nicht treu, sondern Opportunist. Bogdahn vergleicht es mit dem Konzept der Ehe, die ja auch, um zu funktionieren, ein Wunder braucht, ein letztlich rational nicht mehr zu begründendes Festhalten am Partner, auch wenn er sich zwangsläufig irgendwann in ein Rindvieh verwandelt. „Scheidung gibt es in dieser speziellen Beziehung zum Verein nicht. Was die katholische Kirche gerne hätte, das wird bei Sechzig gelebt: Eine lebenslange Ehe durch alle schlechten Zeiten hindurch.“

Die zweite Halbzeit läuft eigentlich ganz gut an. Sechzig konnte noch vor der Pause mit einem Kopfballtor ausgleichen. Ein Unentschieden würde reichen, um sich vor den Abstiegsplätzen zu retten. Seit es zu regnen aufgehört hat, ist es schön warm geworden, offenbar auch auf dem Platz, die Mannschaft schiebt sich lässig die Kugel hin und her. „Ein netter Sommerkick“, ätzt Bogdahn, der Schlimmes ahnt. Das Verhängnis bahnt sich mit lustvoller Langsamkeit an. Während Sechzig sich bemüht, das Unentschieden über die neunzig Minuten zu retten, schießt zeitgleich Bielefeld, der direkte Verfolger, andernorts ein Tor nach dem anderen. Falls das Spiel hier noch verloren ginge, wären beide Mannschaften punktgleich. Dann würde das Torverhältnis über den Tabellenplatz entscheiden.

Das Universum ist kalt und leer

20170514_160146Bogdahn klebt nun die ganze Zeit wortkarg über seinem Handy und aktualisiert immer wieder den Stand des parallel stattfindenden Spiels. Irgendwann trifft die Nachricht vom 4:0 der Bielefelder in München ein. Damit hat der Verfolger Sechzig im Torverhältnis überholt. Jetzt darf hier auf keinen Fall mehr ein Gegentreffer fallen. Die kleinen Jungs in den Trikots schauen auf das Feld wie ein Kapitän, der die Klippe begutachtet, auf die sein Schiff zurast. In jedem Fußballfan schlummert ein mit sich ringender Gläubiger. Er möchte so gern an eine höhere Macht glauben, an der er Anteil hat, er schreit seine Gebete hinaus aufs Feld, um den Spielverlauf zu beeinflussen, aber tief im Herzen ahnt er, zumindest als Sechzger-Fan, dass das Universum kalt und leer und grausam ist und dass seine Gebete nicht erhört werden. Es war schon immer so und es wird sich nichts ändern, niemals: Born to be blue. Ein eisiger Wind fegt durch die Allianz-Arena. Er kommt von innen.

Plötzlich gelangt ein gegnerischer Stürmer im Strafraum zum Schuss, ein Verteidiger in Weiß-Blau schmeißt sich noch dazwischen, aber zu spät: Als der Schiedsrichter das Spiel schließlich abpfeift und die Fans damit aus ihrem melancholischen Starrkrampf erlöst, steht der TSV am vorletzten Spieltag auf Platz 16.

 

Herzschmerz

Über die Stadionlautsprecher läuft „Weiß-Blau TSV“ an, eine Herzschmerz-Ballade für Heimniederlagen: „Es ist wie eine Macht, mit Worten nur schwer zu erklären. Es lässt dich nicht los und du kannst dich dagegen nicht wehren…“ Währenddessen leert sich das Stadion und der nackte Beton wird unter den zuvor blauen Rängen sichtbar. Als gebe es doch einen Fußballgott, allerdings einen mit makabrem Humor, beginnt es wieder zu regnen. Es ist die perfekt inszenierte Trostlosigkeit. Sie scheint zu sagen: Sieh, Sterblicher, alles zerrinnt, aber hey, es gibt immerhin Bratwurst. „Same old song“, sagt Bogdahn.

Eins habe so ein Spiel aber für sich. „Man geht nach einem verlorenen Spiel aus dem Stadion raus und denkt sich: Das ist wieder mal eines der schlimmsten Spiele gewesen, die man je erlebt hat und vielleicht wieder mal einer der schlimmsten Tage überhaupt.“ Aber dann werde der Tag stetig besser. Wenn man ganz am Boden ist, kann es nur noch bergauf gehen. „Man soll ja auch Aktien kaufen, wenn sie am Boden sind. Aber eine Sechzger-Aktie würde ich trotzdem nicht kaufen, weil die konstant am Boden ist.“

Für einen Moment klang das, als stünde doch eine rationalisierbare Entscheidung hinter dem Fan-Dasein, als wäre Fußball eine Aktie aufs Lebensglück. Aber vielleicht liegt das Geheimnis im Umgang mit Niederlagen darin, sie weder erklären noch verklären zu können. Bevor er aufs Fahrrad steigt, um durch den Regen nach Hause zu radeln, grinst Bogdahn noch einmal und sagt: „Die Fans erhoffen sich Erlösung. In der Kirche wird sie vielleicht kommen. Aber nicht bei Sechzig.“


Fotos: © Philipp Bovermann und Benedikt Mahler

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