Die Teilnehmer des Back from the Future Workshops in weißen Overalls
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München 2036: Was wir aus der Zukunft lernen können

Back from the Future

“Back from the Future” hieß es Ende November, als wir uns im Kreativquartier am Leonrodplatz morgens um 10 Uhr treffen. Nicht weniger als einen Blick in die Zukunft unserer Stadt wollten wir an diesem Tag gemeinsam wagen – einen Blick ins Jahr 2036. Am Ende der sechsstündigen Zeitreise im Rahmen eines “Speculative Design”-Workshops nehmen wir anregende Impulse mit – und ein futuristisches Gerät, das wir selbst gebaut haben.

“Wie lernen wir in Zukunft?” war die große Frage des Tages. Zum Workshop gekommen ist eine heterogene Gruppe an Teilnehmer*innen die sich in ihrem Alltag mit Bildungsthemen beschäftigen: beispielsweise Lehrer*innen, Mitarbeiter*innen aus dem Bildungsreferat, Hochschulangestellte, und Angestellte der Stadtbibliothek. Mitbringen mussten wir alle nicht mehr als ein wenig Zeit und die Bereitschaft, uns auf das Experiment “München 2036” einzulassen. Gastgeber und Initiator hinter “Back from the Future” ist OuiShare – ein internationales Netzwerk von konstruktiven Neudenkern für die Herausforderungen unserer Welt.

Kurz vor der Abreise – Teilnehmer*innen des Workshops

Bevor es aber richtig los geht mit unserer Reise, streifen wir uns noch schnell weiße Overalls über. In einem einem kleinen Nebenraum steigen wir dann in eine Zeitkapsel, die uns sicher ins Jahr 2036 bringt. Schon wenige Augenblicke später sind wir ganz im Workshop-Setting: Unsere Mission ist es, Visionen und Szenarien zu lebenslangem Lernen zu erarbeiten. Anregungen dazu erhalten wir durch sogenannte “Ausgangssignale”, durch aktuelle Debatten und Zukunftsvisionen.

Die Aufgabe, die uns fast den ganzen Tag über beschäftigt halten soll, erfordert einiges an Kreativität, Transferdenken, aber auch Spontanität. Ausgehend von einem Impuls aus der Gegenwart – einer Erkenntnis aus der Wissenschaft oder einem aktuellen Diskurs – müssen wir daraus ein konkretes Szenario für das Jahr 2036 in München entwickeln. In mehreren Aufgaben spielen wir gedanklich durch, welche Folgen mit diesem Szenario verbunden sein könnten. Am Ende des Workshops entwerfen wir ein Gerät, das in diesem Szenario eine wichtige Rolle spielt.

Ich erfinde später das “SmartBrain”, ein schlaues Implantat für unser Gehirn. Als ich meinen Impuls erstmals in Zettelform von der Wand des Workshop-Raums reiße, weiß ich davon aber noch nichts. “Evolutionsrechte” steht auf dem Zettel, den ich – auch ein bisschen aus Verlegenheit ob der großen Auswahl – wähle. Dort lese ich:

„Bryan Johnson glaubt, dass schon bald Diskussionen über Evolutionsrechte beginnen werden, da immer mehr Menschen in Zukunft ihren Mitmenschen durch genetische oder technische Manipulation ihres Körpers überlegen sein werden. Ähnlich wie im Kampf um Menschenrechte, das Wahlrecht oder die gleichgeschlechtliche Ehe, könnte diese Diskussion die Gesellschaft spalten.“

Das Ausgangssignal kommt wohlgemerkt aus unserer jetzigen Zeit – also aus der Gegenwart. Ich muss mir nun überlegen, welche Folgen dieser Impuls in unseren Leben haben kann. Halte ich die Einschätzung von Bryan Johnson überhaupt für plausibel? Das muss ich erst mal entscheiden, als ich meinen Input an der Wand platziere auf dem Spektrum zwischen “wahrscheinlich”, “möglich” und “unwahrscheinlich”. Die Ausgangssignale der anderen Teilnehmer*innen landen dort ebenso samt deren Einschätzung. Johnson ist Gründer und CEO von Kernel, einem Unternehmen, das fortschrittliche neuronale Schnittstellen entwickelt. Das erfahre ich nach einer kurzen Google-Suche auf meinem Smartphone. Ich halte die These auch deshalb für relativ wahrscheinlich.

Munich Back from the Future - Workshop Teilnehmerin beim Anbringen ihrer Karte an die Wand.
Teilnehmer*innen vor dem “Future Cone” – dort landen unsere Ideen in Notizform und mit Schnürren verbunden

Wenige Zeit später lerne ich überraschend Maxi kennen. Maxi ist 16 Jahre alt und geht in die 10. Klasse der Gerhard-Polt-Gesamtschule in München-Sendling. Morgen hat er eine Klausur in “Politischer Bildung”. Ein ungutes Gefühl begleitet ihn beim Gedanken dabei. Woran das liegt? Er darf sein “SmartBrain” dabei nicht verwenden. Also hat er Angst, viel schlechter abzuschneiden, als seine Klassenkameraden. Armer Maxi.

Ok: Der aufmerksame Leser errät sicher, dass ich inzwischen in meinem fiktiven Zukunftsszenario bin. Willkommen bei meiner ganz persönlichen Folge der Netflix-Serie Black Mirror. Das Pauken von Jahreszahlen gehört 2036 nämlich für Schüler*innen der dunklen Vergangenheit an. Mittels einem Gehirnimplantat arbeiten unsere Gehirne inzwischen mit dem gesamten Wissen der Menschheit: ein Wikipedia in Echtzeit. Bryan Johnson hatte also Recht.

Workshop-Teilnehmer*innen beim intensiven Austausch

Ich muss den anderen Workshop-Teilnehmern den Kontext meiner Story erklären, die ich soeben noch selbst erdacht habe. Also fahre ich fort: Die Münchner Schüler erhalten im Jahr 2036 diese technische Hilfestellung. Sie lernen das schier unendliche verfügbare Wissen mithilfe des SmartBrains anzuwenden – auswendig lernen müssen sie es nicht mehr. Außer Maxi: seine Eltern sind strikte Gegner dieses neuronalen Eingriffs. Sie machen von ihrem Recht der Verweigerung als Erziehungsberechtigte Gebrauch. Und Maxi hadert mit dieser gefühlten Bevormundung. Die Zukunft kann so ungerecht sein.

Meine Story hat sicher einige Löcher und ist vielleicht nicht bis ins Letzte plausibel. Mir bleibt aber nicht so viel Zeit: ich muss mir außerdem überlegen, welche politischen, ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen mein Ausgangs-Szenario hat. Diese Implikationen platziere ich dann im Workshop-Raum ebenso an der Wand.

Schlussendlich bastle ich mein “SmartBrain” – das Gerät, das mein Ausgangssignal zu Beginn mit meinem konkreten Szenario verbindet – und erkläre den anderen Teilnehmer*innen der Zeitreise meine Idee und meine Story dahinter. Auch deren Zukunftsartefakte werden mir präsentiert. In fast allen Fällen sind die Kontexte und die sozialen Implikationen das Interessante an unseren Erfindungen. Technisch umsetzen werden wir sie natürlich nicht.

Die Zukunft nach Farben angeordnet – mit viel Phantasie basteln wir auch Kleinteilen unsere Geräte – Back From the Future
Die Zukunft nach Farben geordnet – mit viel Phantasie basteln wir aus Kleinteilen unsere Geräte

Das ist auch nicht nötig: beim “Speculative Design”, so nennt sich nämlich die Methode die wir im Workshop anwenden, dürfen wir unserer Phantasie freien Lauf lassen. Ziel ist es, provozierende und irritierende Objekte aus der Zukunft zu erdenken und sie in vertrauten Kontexten zu platzieren. Auf diesem Weg lösen wir uns viel leichter von unseren konventionellen Denkmustern. Diese sehr moderne Design-Methode zielt nicht etwa den Markterfolg von Produkten oder auf das Naheliegende und unmittelbar Problemlösende, sondern vielmehr auf die kritische Antizipation von gesellschaftlichen Diskursen. All diese Überlegungen sollen sich letztlich in unseren Zukunftsartefakten manifestieren.

Während wir basteln, zeigt sich viel Geschick und Einfallsreichtum bei den Teilnehmern, aber auch ein paar Fragezeichen entstehen bei mir: im Zwiegespräch mit anderen Teilnehmer*innen erfahre ich immer wieder mehr.

Stolzer Erfinder samt Erfindung: Das “SmartBrain”

Bevor ich mich versehe, ist der Tag auch schon fast vorbei. Erstaunlich, in welch unterschiedliche Richtungen die Zeitreisenden gedacht haben. Ich bin irgendwo bei Biotechnik und sozialer Ungleichheit gelandet – vielleicht hat das Soziologie-Studium seine Spuren hinterlassen. Klar ist, dass jeder seinen Erfahrungsschatz auch ein wenig in die Zukunft projiziert hat. Als wir nach einer Feedback-Runde abschließend nochmal in die Zeitkapsel steigen, ist unsere Reise zu Ende.

Wieder im Jahr 2019 angekommen, nehme ich meinen weißen Overall ab und bleibe noch ein bisschen vor Ort. Bei einem Getränk komme ich mit den Workshop-Machern nochmal ins Gespräch. Seit Frühling dieses Jahres haben sie zu verschiedenen Workshops im Bereich Stadtentwicklung Expert*innen eingeladen. Und Morgen steht gleich die nächste Reise an: dann soll es um das Thema “Pflege in München” gehen. Gleicher Ort, gleiche Zukunft.

Unsere Artefakte lassen wir letztlich samt unseren Notizen dazu vor Ort. Die gesammelten Ergebnisse der verschiedenen Workshops werden 2020 im Rahmen einer öffentlichen Intervention erlebbar gemacht – genaue Details sind bis dahin aber noch Zukunftsmusik – und werden nicht verraten.


Für MUCBOOK am Workshop teilgenommen – und darüber geschrieben – hat Florian Kraus. Fotos: © Ouishare / © Florian Kraus. Mehr zu den Projekten und weiteren Workshops von “Back from the Future” hier.

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