Kultur, Nach(t)kritik

I’m the tiger. Und ich dachte: Ja.

Hannes Kerber
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“Beginnen” ist die erste Geschichte in Robert Menasses neuem Erzählband “Ich kann jeder sagen”, in dem 13 Ich-Erzähler von Erlebnissen erzählen, die ihr Leben geprägt haben. Eine Leseprobe.

beginnen

Im Flugzeug von Wien nach Rio de Janeiro – Nein. Ich möchte neu anfangen. Als ich Eva zum ersten Mal küsste, hörten wir die Platte »Born to be wild«. Das ist sechzehn Jahre her. Als ich unlängst von der Arbeit heimkam, wehrte Eva meinen Versuch, sie zu küssen, ab, worauf ich in das Zimmer unserer Tochter schaute. Vanessa lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett und hörte »Born to be alive«. Sie öffnete nicht einmal die Augen. Ich – Nein. Ich möchte neu anfangen. Ich war ein sehr guter Student, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Es war, als steckte in mir eine bis zum Äußersten angespannte Stahlfeder. Mein Lehrer, Professor Schneider, gab mir zu verstehen, dass er von mir erwartete, das Studium mit Auszeichnung abzuschließen. Aber die Feder löste sich nicht, ich machte nicht den Sprung nach vorne, sondern verhedderte mich in Theorien. Ich studierte übrigens Wirtschaftswissenschaften. Ich schrieb eine Arbeit zum Thema »Heterodoxer Schock«. Die Methode des heterodoxen Schocks gilt als Mittel, eine darniederliegende Nationalökonomie durch eine bewusst herbeigeführte reinigende Krise zu sanieren, in der man völlig geänderte Bedingungen für einen neuen Aufschwung durchsetzt. Das war die Lehrmeinung. Ich plädierte aber dafür, diese Methode auch einmal bei saturierten, stabilen Volkswirtschaften anzuwenden, um auch diesen wieer das Gefühl von Aufbruch und Neubeginn zu geben. Diese These war ein Skandal. Am Ende musste ich froh sein, eine positive Abschlussnote zu bekommen. Seit damals – Nein. Ich will neu anfangen.

Wahrscheinlich begann es schon, als ich zur Schule ging. Es war die Zeit, Ende der 60er-Jahre, als die Idee, man könne und müsse neu beginnen, alles anders und besser machen, zum  allgemeinen Fetisch wurde. Dieser Zeitgeist, just wenn man in der Pubertät ist! Ich hörte »I want to hold your hand« und hielt Händchen. Ich hörte »Let’s spend the night together« und erregt – diskutierte ich über Gesellschaft, Establishment und Unterdrückung. Maria – hieß sie wirklich so? Egal, sie war die erste, mit der ich mir einen Sprung ins Leben vorstellte, in ein freies, intensives Leben. Maria wollte mich nicht küssen, aber sie fragte mich, warum ich diese seltsame Delle auf der Stirn habe. Ich versuchte nochmals, meinen Mund auf den ihren zu drücken, das heißt, ich stellte mir so intensiv vor, es zu tun, dass ich fast –

Ich muss neu anfangen. Ich war ein sehr schüchternes Kind, so brav, dass man, wenn ich spielte, im Wohnzimmer das Ticken der Standuhr hören konnte. Ich habe –

Nein. Ich muss neu beginnen. Die Delle. Ich war eine schwierige Geburt. Meine Mutter erzählte immer wieder, ich hätte sie fast umgebracht. Schließlich habe man eine Zange verwendet. Diese Stümper. Warum kein Kaiserschnitt? Stümper und Ignoranten, da waren sich Vater und Mutter einig, hätten ihr Leben kaputt gemacht. Und ich, an den schließlich die Aufgabe delegiert war, den sozialen Aufstieg der Familie zu schaffen, hatte nun diese Delle. Und –

Nein. Ich muss neu beginnen. Wirklich am Anfang. Das hat mir meine Mutter erzählt: Genau im Moment meiner Zeugung habe mein Vater plötzlich gefragt: »Liebling, hast du auch die Standuhr im Wohnzimmer aufgezogen?« Diese Frage ausgerechnet in diesem Augenblick! Meine Mutter war schockiert und augenblicklich verkrampft. Dazu muss man die Geschichte dieser Uhr kennen, die – aber das führt zu weit. Ich müsste neu beginnen. Ich tat es. Wie viel Glas es auf einem Flughafen gibt! Das entdeckte ich erst, als ich abreiste, um neu anzufangen. Auf dem Weg zum Gate ging ich ununterbrochen auf Glaswände, auf Glastüren zu, in denen ich mich spiegelte. Jetzt, da ich wegging, traf ich endlich mich selbst. Eine Trennung ist eine abrupte Befreiung aus unproduktiven Verstrickungen, eine bewusst herbeigeführte reinigende Krise, im Grunde ein heterodoxer Schock. Im Flugzeug nach Brasilien hatte ich das Gefühl, dass eine innere Feder sich löste und dass sie es war, die den Start dieses Flugzeugs bewirkte. Meine Euphorie war so groß, dass ich meinte, mit Helium gefüllt zu sein, das mich ganz leicht machte und zugleich meine Außenwände straff nach außen drückte. Gab es da noch eine Delle, eine Beschädigung? Nein. Der Flugkapitän sagte die Flugzeit durch. Es sollte ein langer Flug werden. Aber gemessen an all meinen Anläufen würde er doch nur ein kurzer energischer Satz sein. Im Kopfhörer hörte ich dann das Lied »I’m the tiger«. Und ich dachte: Ja.

Diese Geschichte ist Robert Menasses “Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung” entnommen. Das Buch erschien 2009 im  Suhrkamp Verlag und kostet 17 Euro 80 Euro.

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