Kultur

„Einfach reinschlagen“

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Zwischenmenschliches stand beim Lesewettbewerb des Tukan-Kreises für Münchner Nachwuchsautoren im Mittelpunkt: Freundschaft, Liebe, Familie, der Verlust eines (ehemals) geliebten Menschen und das Zurückgeworfenwerden auf sich selbst. Eine Impression.

Christiane Simon, erinnernd an den erzählerischen Blick Judith Hermanns, beobachtend wie aus halb geschlossenen Lidern, lässt ihren Protagonisten den Spuren einer faszinierenden, kaum gekannten Frau folgen. Er sucht nach einem Rest von ihr in ihrer Prager Wohnung und findet – was schon? Kurz vorher hatte er die Nachricht von ihrem Suizid erhalten. Mit einem Erzählgewebe, mehr flüchtig geflüstert, blass gehaucht, einer tiefen Sehnsucht nach Nähe und einer so ausweglosen transzendentalen Obdachlosigkeit, dem kurzen Aufflimmern von Hoffnung und dem endgültigen Verschwinden eines Menschen berührte die Autorin. Und gewinnt damit später den Wettbewerb.

Auch bei Markus Michalek wird die männliche Hauptfigur mit dem plötzlichen Unfalltod der Ex-Freundin konfrontiert. Seit vielen Jahren hat er sie nicht mehr gesehen. Beim Zurückdrehen der Uhr, beim Sich-umsehen und dem Versuch, diese Frau noch einmal zu evozieren bleibt: ein schwarzes, leeres Loch für die vergangenen Jahre. Er schafft es nicht, will es nicht, kann es nicht, diesem ehemals geliebten Menschen eine Geschichte zu erfinden für diese Zeit der Trennung. Es steckt da doch auch die eigene drin. Wie fremd kann man sich eigentlich werden?

Ein Erinnern und Zurückgehen in der Zeit auch bei Constanze Petery: Einfühlsam, mutig, trotzig versucht die Erzählerin, das Bild ihrer ehemals besten Freundin Laura wiederauferstehen zu lassen: ein starkes Mädchen, das immer so genau spürte, was sie wollte; eine zum stillen, heimlichen Bewundern genauso wie eine zum Berühren. Und ein Mädchen, das manchmal „einfach reinschlagen“ will. Wie gut kennen wir die Menschen, die uns am Nächsten stehen? Laura wird im Text zur Amokläuferin.

Wie gut kann man schreibend jemanden festhalten, um ihn zumindest in der eigenen Phantasie zum Bleiben zu zwingen? Und wie viel von uns, von unseren Sehnsüchten und Wünschen, steckt in den Geschichten, die wir uns von Anderen im Nachhinein zurechtreimen? So erweckt Tilmann Strasser in seinem Text die russische Musiklehrerin wieder zum Leben und entwirft damit großäugig-staunend ein Wesen, das in einer Metamorphose irgendwo zwischen Naturmythos Frau, züngelnder, verführender Schlange und gieriger, machtbesessener Bestie seine Kreise zieht. Zumindest mit schreibender Macht dieses so exotische wie verstörende wie faszinierende Geschöpf zu gestalten und zu beherrschen, gelingt dem erzählenden „Prachtkerl“, wie der Protagonist von der Musiklehrerin genannt wird. Eine spannende Figur skizziert der Autor da, die gefährlich alles aufzufressen scheint, was nicht bei drei auf den Bäumen ist und gleichzeitig doch vielleicht nur spielen will? Dafür gibt’s einen zweiten Platz für Tilman Strasser.

Macht, Gewalt, Kälte, Zynismus sind es, die sich durch Kristina Nenningers Text ziehen: In Sibylle Bergscher Manier interessiert sie sich für die Topographien von Großstädten, kotzt sich aus über die „Hure Zeit“ und kitzelt die Bedeutung von Macht in einer Mutter-Tochter-Beziehung heraus.

Spieltriebiger, kraftvoll und lebhaft „performte“ Christian Schich mit Händen und Füßen, Mimik, Gestik und Stimme seinen Text über das Anheuern auf einem Schiff. In seiner Lebendigkeit und Abenteuerlichkeit, dem Kleinjungen- und Lausbubencharme, erinnerte die Geschichte ein bisschen an Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Bronze!

Auffallend ist, dass da am Donnerstagabend die ganz großen Katzen aus dem Sack gelassen wurden: Mythen, Tod, Suizid, Amok, Verlust, Großstadt und der Mensch als abschreckendes und vielleicht abstoßendes Geschöpf. Wenn der Moderator, anspielend auf die Lesesituation mit Stuhl vorne und Publikum im Halbkreis drum rum, das Stichwort „Gruppe 47“ fallen lässt, erinnert man sich an die „Beschreibungsimpotenz“, die Peter Handke der Gruppe vorwarf. Aber dem war, trotz existentieller Stoffe, in der Seidlvilla nicht so. Nein, kein Drama, kein Pathos, kein Kitsch. Zu beobachten war vielmehr ein sensibler, feinfühliger Versuch, sich annzunähern an Menschen und das, was zwischen ihnen passiert; ein Versuch, erinnernd ein Stück Gegenwart heraufzubeschwören, um den Abschied hinauszuzögern.

Interessant ist auch, dass viele Stoffe doch in sehr „klassische“ Geschichten gepackt wurden: linear, kohärent, geschlossen. Denn sind es nicht die Geschichten, die man uns erzählt, die unsere Wahrnehmung prägen, unsere Denkstrukturen beeinflussen und uns damit ein Vorbild für die Dramaturgie unseres eigenen Lebens liefern? Sind es die linearen, kohärenten, geschlossenen Dramaturgien, die wir wollen?

Und spannend ist vor allem, dass in vielen Texten der Andere so präsent ist. Weil Einzelkämpfer sind wir nicht. „Denn wenn ich von Dir verwirrt bin, dann bist Du bereits bei mir, und ich bin nirgendwo ohne Dich“, schreibt Judith Butler. Was ist es, woraus das „Wir“ gemacht ist? Wenn es die Beziehung, das Soziale ist, das dem Ich vorausgeht, dann ist der, die Andere alles. Wie schmal ist der Grad zwischen Festhalten-können und Loslassen-müssen? Das Motiv des Dir-Nachsinnens, -Nachjagens, -Nachträumens war in den meisten Texten zentral. Und, dass sich das Dich-Verlieren vielleicht eigentlich irgendwo zwischen Erinnern und Vergessen abspielt. Ich soll mir kein Bild von Dir machen, aber wie viel ist die Andere vielleicht wirklich die Geschichte, die ich von ihr erzähle?

Ein schöner Abend, auf jeden Fall, mit größtenteils funktionierenden Texten und guten Geschichten, keine Frage. Jetzt könnte man natürlich nachhaken: Welcher Qualitätsmaßstab ist ein abstimmendes Publikum? Welche/r AutorIn hat einen wie großen Fanclub zum Abstimmen angekarrt? Wäre so was dann „Manipulation“ des Ergebnisses? Welcher Text eignet sich zum Vortragen, welcher vielleicht besser als intime Bettlektüre? Welche Rolle spielt die Sympathie bei der Bewertung einer Autorin oder eines Autors? Und vor allem: Es ist da nicht die Autorschaft zu Gast bei Freunden, sondern die Inszenierung der eigenen Lesung, die Präsentation der eigenen Biographie und das Schillern der eigenen Persönlichkeit ist – leider? Gott sei Dank? – mit Sicherheit ebenso einflussreich wie der vorgelesene Text. Aber so ist das doch nun mal bei einer Lesung: Die (bewusste oder unbewusste) Inszenierung ist dem Format inhärent. Eine Lesung auf ihren scheinbaren „Wesenskern“, das gedruckte Wort, zu reduzieren, wäre schlicht naiv und getippter Text als Herz ein trügerisches. Die Lesung mag damit ein geschlosseneres Konzept als das Buch sein, eines, das von uns ZuhörerInnen mehr Passivität verlangt, dafür mehr Sinne speist. Aber – das ist uns ja eh allen klar, oder?