Kultur, Nach(t)kritik

»Ich bin Berlinerin, waschechte.«

Hannes Kerber
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Am Donnerstag liest Mathias Nolte, Skandalnudel und Schriftsteller, aus seinem neuen Berlin-Roman “Louise im blauweiß gestreiften Leibchen” im BücherCafé Lentner. In seinem Buch geht es um eine Schriftstellerin, die  aufhört zu schreiben – um Privatdetektivin zu werden. Eine Leseprobe. Matthias Nolte hat zuvor mit “Roula Ruge” einen München-Roman geschrieben. Damals drehte sich alles um einen Grafikdesigner. Jetzt geht es um eine Schriftstellerin, die sich in das ehemalige Büro eines Privatdetektivs eingemietet hat und ein bisschen frustriert ist. Das Eine kommt dann zum Anderen. Ein Unterhaltungsroman eben. DER SPIEGEL urteilte “leicht, aber nicht seicht” und “Stil statt Pop-Allüre”.

Sie hörte das Klopfen an der Tür nicht, das zaghafte nicht und auch nicht das kräftigere, das folgte. Sie stand schon eine Weile lang am Fenster des Büros und blickte vom fünften Stock auf die Lietzenburger. Vor ihren Augen tobte ein Unwetter. Seit einer halben Stunde blitzte und donnerte es in immer kürzeren Intervallen und der Wolkenbruch, der mit dem Gewitter einherging, war so gewaltig, dass Gullys überfluteten, Wasser stand Zentimeter hoch auf dem Asphalt und die wenigen Autos, die sie wahrnahm, schlichen mit aufgeblendeten Scheinwerfern wie verängstigte Katzen in beide Richtungen der Straße.

Es war Charlies dritter Tag in dem Büro. Friedrich K. Adam hatte sich nach zweiundvierzig Jahren harter Arbeit in den Ruhestand verabschiedet, Charlie hatte den Mietvertrag des Alten übernommen und ihm ein paar Möbel abgekauft – die beiden Rollschränke, auf denen noch der Staub der Zeit lag, den antiken Schreibtischsessel aus Mahagoni und den hässlichen Eichenschreibtisch, an dem sie in den nächsten Monaten die traurige Geschichte des Dichters Philipp Bach zu Papier bringen wollte. Bach war im Sommer 2006 unter nicht ganz aufgeklärten Umständen an der Glienicker Brücke leblos aus der Havel gefischt worden.

Es klopfte ein zweites Mal. Charlie wandte sich vom Fenster ab und sah auf die Tür, sah, wie der Knauf sich langsam nach links drehte und die Tür sich öffnete. Im Rahmen stand ein großer Mann Ende vierzig. Er trug Budapester Schuhe, einen Kamelhaarmantel, dessen Schultern der Regen dunkel verfärbt hatte, und einen braunen Hut mit breiter Krempe. Er sah aus wie ein reicher Unternehmer in den deutschen Filmen der fünfziger oder sechziger Jahre. Nur dick war er nicht, vielmehr schlank. In der linken Hand hielt er einen übergroßen Regenschirm, zwischen Oberarm und Brustkorb klemmte eine weiße Plastiktüte. Er blickte in Charlies erstauntes Gesicht, dann zeigte er mit der rechten Hand auf das Messingschild an der Tür, auf dem erhaben, in schwarzen Buchstaben, die Worte Detektei Adam zu lesen waren.

Ohne sich vorzustellen und ohne ein Wort der Begrüßung sagte er: »Gibt’s ihn nicht mehr, den alten Adam? Ist er tot?« Charlie ging zwei Schritte vor zum Schreibtisch, auf dem aufgeschlagen neben ihrem Rechner die grüne Mappe mit den Notizen über Philipp Bach lag. Wie ertappt schloss sie die Mappe. Ihr Blick fiel kurz auf das weiße Etikett, das sie selbst fein säuberlich mit einem Montblanc-Füller beschriftet hatte. In der Hauptzeile führte es den Namen des Dichters, die Unterzeile des Aufklebers lautete: Was soll eigentlich aus Mitteleuropa werden, wenn ich eines Tages tot bin?

»Nein, Herr Adam ist nicht tot. Wieso?«

»Ich habe ein paar Mal versucht, ihn ans Telefon zu kriegen, vergeblich. Er hat mir bei zwei Gelegenheiten sehr geholfen. Sind Sie seine Tochter?«

Charlie schüttelte den Kopf und anstatt zu sagen: Guter Mann, mach dich vom Acker, mit Adam und seinem Schnüffler-Business habe ich nichts zu tun! sagte sie: »Herr Adam ist in den Ruhestand gegangen, er lebt in Florida. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

Die Worte purzelten, ohne dass sie nachdachte, aus ihrem Mund. Sie wusste nicht, warum. War es die Angst nach langer Pause wieder zu schreiben? Oder war es vielleicht einfach nur Neugier? Wenn ein Mann in einem Kamelhaarmantel und in teuren Schuhen sich bei dem Sauwetter auf die Straße traute, dann musste es einen triftigen Grund dafür geben, zumindest ein Geheimnis, das unbedingt aufgeklärt werden wollte. Warum sonst suchte man einen Schnüffler auf?

Der Mann stellte den Regenschirm neben einen der beiden Rollschränke aufs graue Linoleum, dann nahm er den Hut ab und stülpte ihn über den Griff des Schirms. »Sind Sie Adams Nachfolgerin?«, fragte er, während er die noch nasse Plastiktüte auf dem Schreibtisch ablegte. Charlie antwortete nicht. Draußen donnerte es, Hagelkörner trommelten mit solcher Gewalt gegen die Fensterscheibe, dass man fürchten musste, sie gehe zu Bruch. Das Büro lag jetzt fast im Dunkeln. Erst in diesem Augenblick reichte der Mann Charlie die Hand zur Begrüßung. »Dan… Daniel Baum«, sagte er. Seine Stimme klang forsch, so als sei sie gewohnt Anordnungen zu geben. »Und mit wem hab ich die Ehre?«

»Charlotte Pacou«, antwortete Charlie.

»Pacou … Pacou …«, wiederholte Baum langsam. In seinem Kopf arbeitete es. »Wir hatten doch einmal einen französischen Botschafter hier, Pacou … René, glaub ich, hieß er. Ja, richtig, René Pacou.«

»Hat nichts mit mir zu tun. Ich bin Berlinerin, waschechte.«

Charlie log. Sie war keine Berlinerin. Sie knipste die Schreibtischlampe an und fragte sich, ob sie das absurde Spiel nicht beenden und dem ungebetenen Besucher die Wahrheit sagen sollte.

»Sind Sie so gut wie Adam?«, fragte Baum, während er die weiße Plastiktüte öffnete und ein Buch herauszog, einen Kunstkatalog. Charlie hob leicht die Schultern und ließ sie wieder fallen. Was wusste sie, wie gut sie war? Seit sie sich vor zwei Monaten nach sechs langen Jahren von Nick Seeberg getrennt hatte, wusste sie nichts mehr. Nichts. Schon gar nicht von sich selbst. Außer, dass

sie kaputtgegangen wäre, wenn sie ihn nicht verlassen hätte. Sie deutete auf den Bistrostuhl, den sie aus ihrem Apartment mitgebracht hatte, und setzte sich in den Mahagonisessel. Daniel Baum nahm auf dem Stuhl Platz. Sein rotbraunes Haar hatte er mit Gel zurückgekämmt, sein Gesicht war leicht gebräunt. Das Aussehen passte zum Outfit, zum Hut, zum Kamelhaarmantel, zu den teuren Schuhen.

»Ich wollte Adam bitten, eine Frau für mich zu suchen«, sagte

Eifersucht, dachte Charlie. Same old story. Mittelalterlichem, reichem Mann läuft junge Geliebte weg. Mann will wissen, was sie treibt, um sie dann zum Teufel zu schicken. Wie einfach doch alles war. Und wie trostlos Adams Berufsleben gewesen sein musste. Zu achtzig Prozent, oder noch mehr, hatte es von der Eifersuchtgelebt. Einer liebte eben immer mehr. Und Adam sollte es dann richten, aus einem Verdacht sollte er Gewissheit machen. Warum auch immer…

»Eine Frau? Welche Frau?«, fragte Charlie.

Baum erhob sich vom Stuhl, nahm den Katalog vom Schreibtisch und schlug eine Seite auf, die mit einem hellgrünen Stickie markiert war. Er legte sie Charlie vor die Nase. Dann setzte er sich wieder, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände auf den Knien. Er sah Charlie an, als wolle er sagen: Jetzt bist du dran, Mädchen.

Charlie zog die Schreibtischlampe näher ans Buch und kniff die Augen leicht zusammen. Vor ihr lag die nicht sehr professionell aufgenommene Farbfotografie eines Gemäldes, das Porträt einer jungen Frau. Es war zweisprachig untertitelt: Louise im blauweiß gestreiften Leibchen und Louise en chemisette rayée bleu et blanc, beiden Titeln folgte die Jahreszahl 1959. 1959 – das Bild war zehn Jahre älter als Charlie. Was sollte das? Sie blätterte in dem Katalog ein paar Seiten vor und zurück. Die anderen Fotos der Gemälde waren von besserer Qualität, schärfer und klar ausgeleuchtet.

»Ich verstehe nicht. Sie suchen diese Frau? Diese Louise?«

Baum schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal glaubte Charlie, den Hauch eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen. »Nein, nicht die Frau, ich suche Louise. Das Gemälde will ich. Ich besitze fast alles von Jabal, jedenfalls fast alle Ölbilder.«

Charlie betrachtete das Cover des Katalogs. Jonas Jabal – Tableaux et Dessins. Edition Cinquanteneuf. Den Namen des Malers glaubte sie schon einmal gehört zu haben, sie konnte sich aber nicht erinnern, wo und wann. Auch das Gemälde auf dem Umschlag kam ihr bekannt vor. Verflucht, wo hatte sie das Bild schon einmal gesehen? Es zeigte einen jungen Mann, schlaksig und verträumt, sein kleiner Kopf klebte unschuldig auf dem langen Hals wie Schwefel auf einem Streichholz. Er hatte rotblonde Haare, die in alle Richtungen standen. Unter dem rechten Auge war eine Narbe zu erkennen. Er machte den Eindruck, als wisse er nicht, wo er hingehörte. Das Hemd, das er trug, sah aus wie ein kanadisches Holzfällerhemd, kariert und bunt. Charlie zeigte mit dem Finger auf das Bild und sah Baum an. »Auch das? Das gehört Ihnen auch?«, fragte sie.

»Auch das, ja. Auch das gehört mir.«

Eine Viertelstunde später saß Charlie wieder allein in ihrem Büro und googelte Jonas Jabal. Daniel Baum und sie hatten vereinbart, dass sie beide noch einmal über den Auftrag nachdachten. Charlie hatte gezögert, als Baum eine Antwort von ihr wollte, aber auch Baum selbst war sich nicht sicher, ob Charlie die richtige Person für eine solche Aufgabe war, er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass auch er Bedenkzeit brauchte. Den Katalog hatte er ihr geschenkt, ihr seine Visitenkarte gegeben und Charlies Handynummer notiert. Falls einer der beiden den anderen nicht anruft und absagt, hatten sie sich für den nächsten Tag um neunzehn Uhr im Haus von Baum in Grunewald verabredet.

Als Charlie eine Stunde nach ihrem unerwarteten Besucher das Büro verließ, hatte sich das Unwetter verzogen, der Himmel war sternenklar und das Licht des Vollmonds spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. Im Rinnstein lagen noch nicht getaute Hagelkörner. Es war kalt geworden. Doch Charlie spürte die Kältt nicht. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um Jonas Jabal, dessen Bilder sie nicht mehr losließen.

Von der Lietzenburger Straße ging sie Richtung Manzini. Zwar hatte sie sich einmal geschworen, das Café nicht mehr zu betreten, weil sie Nick Seeberg hier kennengelernt hatte, aber das war ihr jetzt gleichgültig. Sie hatte immer gern hier gesessen. Während ihres Studiums hatte sie ganze Nachmittage hier vertrödelt, in die Luft geguckt und geträumt. Jetzt verstand sie nicht mehr, warum sie den Ort gemieden hatte. Seeberg war an diesem Abend Lichtjahre von ihrem Gedankenkosmos entfernt, genauso Philipp Bach, ihr Poète maudit, dem sie doch eigentlich einen Lorbeerkranz flechten wollte, seit sie zwei Bücher des Mannes gelesen hatte.

Während sie Muscheln aß und ein Glas Weißwein trank, klebten ihre Augen auf Louise im blauweiß gestreiften Leibchen. Nichts anderes um sich herum nahm sie wahr.

Diese Geschichte ist dem neuen Roman “Louise im blauweiße gestreiften Leibchen” (Hanser Verlag) von Mathias Nolte entnommen. Das Buch kostet 19 Euro 90. Am Donnerstag, den 14. Januar, liest der Autor im BücherCafé Lenter (Balanstraße 14). Der Eintritt kostet sieben Euro. Reservierungen sind unter 089/18910096 möglich.

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