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Bis ich fliege | Wir reden jetzt mal über Essstörungen!

MUCBOOK Redaktion

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Wo Frau hinschaut: Models. Flacher Bauch links, knackiger Po rechts. Dazu das jeweilige Konsumerprodukt, durch dessen Kauf sich Frau der Traumfigur nähert. Traumfigur – im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich mögen wir schlanke Mädchen. Ich selbst bin hier keine Ausnahme, und manchmal erschrecke ich vor mir selbst, wenn ich in sekundenschnelle beschließe, ob eine Frau zu dick oder zu dünn ist. Wobei, was heißt das schon? “Zu dick”… ist das überhaupt meine eigene Meinung? Wahrscheinlich nicht. Wenn aber alle Mädchen wirklich so aussehen würden wie auf den Bildern, dann würde die Menschheit relativ schnell aussterben. Geburt unmöglich.

Schöner Allgemeinplatz: „Wir alle sollten uns bewusster und öfter vor Augen halten, dass die Bilder aus Internet, TV & Hochglanz einfach nicht echt sind.“ Klingt abgedroschen. Ist aber so. Schaut mal auf dieser informativen Seite hier vorbei, die sich gegen die Pro-Anorexie Bewegung richtet: Ein Leben auf der Waage. Nicht ohne vorher ausführlich in das Thema einzuführen… wobei das alleine schon gefährlich ist. Erschütternd. Grenzwertigst, aber gut, um eine Ahnung davon zu kriegen, was das moderne Schönheitsideal bei manchen Menschen anrichtet. Liebe Kinder und minderjährige Leser – diesen Link solltet ihr vielleicht nicht ohne Eltern im Zimmer anklicken…

Trotzdem wird seit Jahren retuschiert, was der Rechner hergibt. Mit den bezahlten Photoshop Stunden dieser Welt könnte man wahrscheinlich aktiv zur Lösung der Hungersnot in Afrika beitragen. Und man sollte es auch. Richtig problematisch wird das Ganze gerade für junge Mädchen, die sich einen riesen Stress machen, um ja nicht „zu dick“ zu sein. In der Pubertät. Hallo!?!? Mädels, freut euch, dass eure Brüste wachsen! Rubens würde uns bemitleiden.

Die Realität heute sind massive Essstörungen, wo man hinsieht. Geh durch einen beliebigen Supermarkt in München und ich wette, du findest ein Mädchen welches hochkonzentriert Kalorienangaben auf den Packungen studiert, anstatt nach dem Mann fürs Leben zu suchen. Grund genug für uns, uns einmal mit jemandem zu unterhalten, der sich wirklich mit dem Thema auskennt und weiß, wie wir (die aufgeklärte ach so gut gebildete Gesellschaft, die wir auch für unsere Leser halten) mit dem Thema umgehen sollten und wie wir Betroffenen helfen können. Benjamin Martens ist Psychologe und Geschäftsführer der Münchner Firma Mind & Mood, der Betreiberin des Online-Portals www.psycheplus.de, und sein Ziel ist es Therapeuten & Patienten zusammen zubringen. Und als zusätzliches Gesundheitsangebot zu informieren. Wir finden das grundsätzlich mal gut und haben uns unterhalten:

89: Magersucht, Bulimie, Anorexie, Essstörung – viele Leute reden mit, kaum einer hat Ahnung. Können wir kurz mal die Begriffe klären, damit wir alle von der gleichen Sache sprechen?

Martens: “Essstörung ist der Sammelbegriff für Erkrankungen, die ein gestörtes Essverhalten zur Folge haben. Davon kennen wir klassischerweise zwei: Bulimie und Anorexie. Letztere ist der Fachbegriff für Magersucht und bedeutet wörtlich „Appetitlosigkeit“. Tatsächlich trifft diese Bezeichnung aber nicht das Problem, denn Magersüchtige haben sogar oft sehr großen Appetit, aber sie unterdrücken ihn rigoros, und nehmen so extrem wenig Nahrung auf. Wer das nicht durchhält und auf Heißhungerattacken mit anschließend herbeigeführtem Erbrechen reagiert, leidet dagegen unter Bulimie. Gemeinsam haben die Betroffenen, dass sich ihr Leben nur noch um Essen, Kalorien und Gewicht dreht.”

89: „Essstörung“ – gerade Männer können sich hier schwer vorstellen, wo genau das Problem liegt. „Psychoquatsch! – iss einfach wieder mehr“ ist wohl die Standardlösung, die Mann der betroffenen Frau vorschlägt. Wie kann man als Angehöriger helfen und auf welche Zeichen sollte man achten?

Martens: “Zunächst würde ich gerne festhalten, dass Essstörungen kein Frauen-Problem sind: Die Zahl der Essstörungen bei Männern steigt rapide an. Man(n) würde sich wundern, wie viele Männer mit dem Thema kämpfen. Hier sehen wir allerdings besonders häufig die der Wissenschaft noch nicht so lange bekannte sog. „Sportbulimie“; d.h. die Mahlzeiten werden durch übermäßigen und extremen Sport kompensiert. Alarmzeichen für eine Essstörung ist immer ein ungewöhnlich starker Gewichtsverlust. In der Regel lässt sich auch eine Veränderung des Essverhaltens beobachten – also der oder die Betroffene isst sehr eingeschränkt und lustlos, achtet unverhältnismäßig streng auf den Kaloriengehalt, trinkt auffällig viel, um den Magen zu füllen, und scheint sich häufig nur noch mit Ernährungsfragen zu beschäftigen. Auch Vorräte von Diätpillen oder Abführmitteln sollten Besorgte Freunde und Angehörige unbedingt zum Thema machen. Im fortgeschrittenen Stadium fallen Essgestörte dann auch durch die schlechte Qualität der Zähne auf: Bei Magersucht ist das Gebiss wegen des Kalziummangels geschädigt, bei Bulimie ist es durch das häufige Erbrechen angegriffen. Immer gilt: Entscheidend ist, dass die Symptome früh erkannt werden, deshalb sollte das Umfeld bei einem begründeten Verdacht nicht zu lange zusehen.”

89: Body-Mass-Index – beliebtes Thema. Was genau ist das und ist das nicht ein überholtes Konzept? Wir reden bei Essstörungen ja mittlerweile auch von Kindern!

Martens: “Der Body-Mass-Index (BMI) ist ein grobes Raster, mit der man als Erwachsener errechnen kann, ob das Gewicht noch im Normalbereich liegt. Dazu teilt man das Körpergewicht durch die Körpergröße im Quadrat (kg/m2). Auf Jugendliche kann die Formel aber beispielsweise nicht übertragen werden. Das bedeutet nicht, dass der BMI grundsätzlich überholt ist – er ist wichtig zur ungefähren Einschätzung. Viele halten sich aber zu sehr an ihm fest. Das Problem: Es gibt einfach unterschiedliche Körperbautypen. Die werden mit dem BMI viel zu wenig berücksichtigt, und das kann zum Problem werden. Wenn sich etwa ein normal gebauter, kräftiger Mann (und hier auch immer bedenken: Muskeln sind tatsächlich schwerer als Fett) sich laut BMI für zu dick hält. Der BMI ist einfach „zu populär“ geworden; heißt: Jeder Laie wirft damit um sich, aber er kann eigentlich nur im Kontext richtig interpretiert werden.”

89: Gerade in „gehobenen Gesellschaftsschichten“ kommt es häufig zu Essstörungen? Woran kann das liegen? Spontan würde man vermuten das passiert häufiger in Gelsenkirchen als in München…

Martens: “Die Gründe für die Fixierung aufs Abnehmen sind vielschichtig, haben aber eher weniger mit der sozialen Stellung zu tun. Einen starken Einfluss hat das Schönheitsideal, das von bedenklich dünnen Models verkörpert wird. Aber auch ein Hang zur Perfektion oder ein geringes Selbstwertgefühl können für Essstörungen anfällig machen. Hier spielt mitunter auch das familiäre Umfeld eine erhebliche Rolle: Oft kommen die Betroffenen aus gut behüteten Verhältnissen, die ihnen wenig Raum für eigene Erfahrungen und Kontrolle lassen. Die Jugendlichen suchen sich einen Bereich, über den nur sie zu bestimmen haben – und übernehmen eine rigide Kontrolle über den eigenen Körper – und in erster Linie über ihr Essverhalten. Häufig sind es mehrere Ursachen, die zu einer Essstörung führen – hier muss man jeden Fall individuell betrachten. Vereinfachung oder Pauschalisierung nach dem Motto „Luxus- oder Oberschichten-Problem“ hilft hier nicht weiter.”

89: Wo können Betroffene in München erste Hilfe erhalten? Und was kostet das? Zahlt das die Kasse?

Martens: “Das Problem ist, dass Magersüchtige und Bulimiker ihre Essstörung oft nicht als Krankheit wahrnehmen (wollen). Das macht es schwer, sie zu erreichen. Dennoch wäre Tabuisieren in jedem Fall der völlig falsche Weg. Wer Rat zu diesem Thema sucht, kann sich als erste Anlaufstelle an mehrere Hotlines und Beratungs­dienste wenden – wir haben eine Ãœbersicht auf Psycheplus zu den wichtigsten Anlaufstellen. Der wissenschaftliche psycheplus Premiumtest kann ebenfalls eine gute, erste Einschätzung dafür liefern, ob eine behandlungsbedürftige Essstörung vorliegt. Essstörungen sind eine anerkannte Krankheit, d.h. die Kosten für eine Behandlung werden selbstverständlich von der Krankenkasse übernommen. Als wirkungsvollste Methode hat sich hier die Psychotherapie bewährt: Der Therapeut hilft, die tiefer liegenden Ursachen zu identifizieren und den Wunsch nach Kontrolle auf andere Lebensbereiche zu verlegen. Ãœber das psycheplus Therapeutenmatching finden Betroffene übrigens den kürzesten Weg zu einem geeigneten Therapeuten in Wohnortnähe. In schweren Fällen kann allerdings auch eine stationäre Behandlung notwendig werden. Sofern das Untergewicht lebensbedrohliche Ausmaße erreicht hat, ist sogar eine Zwangseinweisung möglich.”

89: Therapie – so richtig mit stationärem Aufenthalt? Was macht man da den ganzen Tag? Essen unter Aufsicht?

Martens: “Ein stationärer Aufenthalt wäre nur im Extremfall angezeigt, hier besteht dann oft schon akute Lebensgefahr. Gerade bei Essstörungen ist deshalb ungemein wichtig, möglichst frühzeitig Tendenzen zu erkennen. Dann kann man das Ganze auch im ambulanten Setting in den Griff bekommen. Kommt es zu einer Einweisung, ist das Leben auf der Station natürlich tatsächlich nicht so spannend. Essen unter Aufsicht ist dort tatsächlich ein Thema, was aber nicht unbedingt bedeutet: unter Zwang. Viel passiert hier in Gruppen, da die Fremdbewertung für die Betroffenen ja häufig auch der Stein des Anstoßes war. In der Therapie sollen sie nun lernen, wieder ein vernünftiges Verhältnis zum Essen aufzubauen. Dazu gehört auch simple Aufklärung und Lernen: Was braucht mein Körper? Was für Lebensmittel gibt es überhaupt? Welche sind gut, welche weniger? Aber auch: Was tue ich meinem Körper mit so einer Essstörung eigentlich an? Wichtig ist auch: Das Essen wieder mit festen Zeiten und mit festen Abläufen zu verbinden, es quasi wieder als ein positives Ritual zu erlernen.”

89: Ganz ehrlich: Schauen Sie selbst Sendungen wie „Germanys Next Topmodel“? Würden Sie es Ihren Kindern aktiv verbieten?

Martens: “Ich selbst schaue auf jeden Fall rein, sogar mit großem Interesse (wenn auch etwas weniger, seit Bruce weg ist…). Für einen Psychologen ist diese Sendung tatsächlich sehr spannend. Das große Problem dabei ist allerdings die Reduzierung der Frauen auf äußere Kriterien und eine Hand voll falsch interpretierter Persönlichkeitsmerkmale: Wenn dort von „Personality“ gesprochen wird, geht es ja meistens nur um Selbstdarstellung und nicht um die Frauen als Ganzes; da findet in meinen Augen schon eine massive Werteverrückung statt. Das ist umso gefährlicher, wenn ich mir das Alter der Teilnehmerinnen und auch das der jungen Zuschauer vorm Fernseher so ansehe. Mein Appell ist daher schon seit langem: Holt euch einen Psychologen dazu, der das Ganze für die Mädchen, aber auch für die Zuschauer, ein wenig ins rechte Licht rückt. Davon würden alle profitieren, auch der Sender – weil die Glaubhaftigkeit steigt und neue Facetten des Themas sichtbar werden. Ich würde diesen Job sogar glatt selbst übernehmen.” (wir bei 89 haben übrigens auch mal TopModel geschaut. War ganz witzig und nur wenig werteverrückend. Hier das Protokoll zum Nachlesen! Anm. d. Red.)

89: Haben wir als einzelne überhaupt eine Chance, uns gegen die Flut an Nacktheit & Perfektion zu wehren?

Martens: “Doch, eine Chance hat man immer, aber es ist tatsächlich nicht einfach. Der Mensch ist von Natur aus ein Tier mit ausgeprägtem Herdentrieb, das heißt: Wir machen lieber das, was alle machen; das ist ja auch einfacher. Aber es gibt auch Tendenzen, die gegen den allgemeinen Strom zielen: Kürzlich wurde etwa bekannt, dass der Staat Israel Magermodels aus der Werbung verbannen will. Israelische Models sind künftig per Gesetz dazu verpflichtet, ihren Arbeitgebern all drei Monate eine ärztliche Bescheinung darüber vorzulegen, dass ihr Body-Mass-Index (BMI) nicht unter der von der Weltgesundheitsorganisation festgelegten Norm von 18.5 liegt. Außerdem müssen technisch bearbeitete Fotos als solches kenntlich gemacht werden. Dieses Signal geht für mich in die richtige Richtung; folgen mehr diesem Beispiel, kann das diesen Herdentrieb vielleicht auch einmal umkehren.”

89: Vielen Dank für das Gespräch!

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