Anzeige, tagebook der Villa Stuck

Gursoy Dogtas über Martin Fengel #17

35

Müde und abgekämpft von einem anstrengenden Wochenende bringen wir langsam und mühevoll unsere Hochleistungsgehirne in Aktion und klammern uns umwoben von herbstlichen Nebelschwaden an unseren Kaffeetassen fest. Doch es gibt Hoffnung! Zusätzlichen Elan und Schwung für diese Woche verspricht der Montagsexkurs in die textliche Erklärungswelt Martin Fengels: Heute unterstützt uns Gürsoy Dogtas, seines Zeichens Künstler, freier Kurator, Autor und seit 2006 Herausgeber des ArtistZine Matt Magazine mit seinem Kommentar zu Martin Fengel’s Werkschau.

Manchmal mag ich die Vorstellung, ein Bild zu schießen, das nicht den Anschein hat, von einem Menschen fotografiert zu sein.
William Eggleston, 1992

Leicht reliefartig zeichnet ein türkis-grünes Profil die Form eines Venezianischen Fensters auf weißer Wand nach. Hier wird der Blick nicht nach außen oder innen gelenkt, sondern er wird geradezu von der weißen Wand ausgebremst. Gleich zweimal steht in der Umklammerung des Rahmens die Zahl 35. Einmal glänzend, leicht feucht schimmernd in Magenta, per Hand aufgesprüht und zentral platziert. Weiter unten taucht die Zahl erneut auf, diesmal derangiert, mit vorfabrizierten Ziffern aus Plastik im Farbton des Rahmens.
Die fleckige Wand, die Bohrlöcher in ihr, der leicht demolierte Rahmen, der Schimmel in seinen Ecken rücken das Foto in die Nähe eines Beweisdokuments, welches an Versicherungsgesellschaften oder Hausverwaltungen geschickt wird, um die Notwendigkeit von Renovierungsarbeiten einzufordern. Doch die Leichtigkeit der Farben Türkis und Magenta und ihre unbeschwerte Kombination im hellen Blitzlicht nehmen den aufgelisteten Details die Schärfe.

Bei Martin Fengel wäre es auch vorstellbar, dass diese Fotografie aus einem größeren Konvolut von Bildern stammt. Die Fotografie könnte die Variation eines Motivs innerhalb einer Serie sein. Oder sie könnte ein Motiv innerhalb eines Albums sein, in dem die unterschiedlichen Motive im regen Austausch stehen, um sich gegenseitig auf eine unterhaltsame und lakonische Weise zu kommentieren. Die Direktheit des überraschenden und doch zugleich ephemeren Augenblicks, den die Fotografie für immer festhält, wird erst im Atmosphärischen des Anachronismus als Humor erfahrbar.

Im allgemeinen Verständnis des Anachronismus als ein irrtümlicher Nutzen der Zeit (falscher historischer Kontext etc.) bleiben dessen Möglichkeiten, um mit ihm eine komplexe Zeitlichkeit zu verstehen, für gewöhnlich unbeachtet. Er kann die implizit angenommene temporale Ordnung hinterfragen.

In der Beiläufigkeit der Fotografie von Martin Fengel bildet sich ein Zeitknoten ab. Hier verbinden und verwirren sich verschiedene Zeitebenen. Das Vergangene wird durch unterschiedliche Referenzen aufgerufen. Das Venezianische Fenster, das Palladio-Motiv schlechthin, verweist bis in die Antike zurück, und doch ist es in der billigen Replik des türkisen Profils auf schäbiger Wand undenkbar weit entfernt von jeglicher antiken Ästhetik. Gleichzeitig springen die Assoziationen von der Antike zum Art déco. Ähnliche Sprünge verbergen sich in den Typografien der Zahlen. Die Farbe Türkis, welche aus dem Osmanischen Reich importiert wurde, vergegenwärtigt indirekt eine gänzlich andere Zeitrechnung. Das Ersetzen der demolierten Zahlen durch die aufgesprühten verweist auf eine Passage in die Zukunft. Martin Fengels Fotografie synchronisiert alle diese temporalen Ebenen ganz lakonisch und souverän miteinander. So in unseren Blick gerückt, sieht man die Fotografie förmlich beim Herausfallen aus der Zeit. Hier jedoch im fotografischen Slapstick, der aller Zeit ihre Schwere nimmt.

Gürsoy Dogtas

…………………………………………………………………………………………………………..
Hintergründe zum Projekt “Wachs” von Martin Fengel:
Martin Fengel schickt jede Woche einem Künstler, Autor und anderen Menschen, dessen Arbeit oder Werk er besonders schätzt, ein Foto mit der Bitte, dies zu betrachten und ein paar Zeilen über die einströmenden Assoziationen aufzuschreiben. So entsteht zu dem optischen auch ein textliches Kompendium, was sowohl die Möglichkeit der Interpretation oder einfach nur der Beschreibung birgt.

Auf mucbook und im Blog der Villa Stuck zeigen wir jeden Montag – wenn das neue Bild aufgehängt wird – was sich eine Person dazu dachte. Gerne ist auch jeder Leser des Blogs dazu eingeladen, in der Kommentarzeile frei und ungestüm weiter zu assoziieren. Begleitet wird Fengel‘scher Bildatlas durch vier Veranstaltungen, allesamt musikalischen Ursprungs, die in enger Zusammenarbeit mit Martin Wöhrl, Bernd Zimmer, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem Münchner Label GOMMA entstehen.

No Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons