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Das Zelt ist rund und eckig

Philipp Bovermann
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photocredits: Marcus Antritter

Die jüngere deutsche Geschichte, nämlich jene seit der Stunde Null 1945, ist so jung nicht mehr, und auch die Geschichte selbst hat im gegenwärtigen Diskurs die Zähne gegen ein künstliches Gebiss eingetauscht und Falten bekommen. Auch die Postapokalyspse geht irgendwann vorbei. Die Produktion „Als würden wir den Frieden schon kennen“ diskutiert und vergegenwärtigt die doppelte Entzauberung der Geschichte ausgerechnet in einem Zirkus, in dem sich sonst die Jugend als magische, zirkuszauberhafte Gemeinschaft und Einheit erlebt.

Die Eröffnungsszene wiederholt die Geburtsstunde der ersten Generation um 1945. Schon damals wurde man alt geboren, nämlich schuldig. Und so strampelt sich heute eine Gruppe alter Frauen in der Mitte der Manege aus einem weißen Laken frei, unter Zischen und Fauchen von außen und schweigend, und ein bisschen sehen sie zunächst aus wie Ungeheuer, diese Alten, wie etwas Unförmiges, mit dem man nicht umgehen kann. Auch sie selbst konnten es damals nicht. Die groteske Verzerrung, als sie schließlich Szenen aus ihrer Kindheit zu erzählen beginnen, mit großen Augen und Stopffpüppchen in der Hand, stimmt durchaus überein mit jener geschehenen Nichtübereinstimmung, die darin besteht, in einem naiven Kinderschädel die Schuld des Krieges begreifen und reifen lassen zu müssen – sozusagen, in Umkehr des berühmt gewordenen Ausspruchs von Adorno, ein (anfangs und ursprünglich) richtiges Leben im falschen, aber „anfangs und ursprünglich“, das ist Geschichte, wie man so sagt.

photocredits: Marcus Antritter

Sie erzählen, diese Alten, Kindergeschichten, in denen sie die Hauptrolle spielen, für eine gewisse Zeit tun sie das ganz allein, verstreut über das Zirkuszelt, wie Kinder und Ängstliche eben immer ein bisschen ganz für sich sind. Der Zuschauer ist Besucher, angehalten und ermutigt sich frei zu bewegen und zuzuhören. Kindergeschichten handeln immer vom Einzelnen, den der Kollektivsingular „Geschichte“ gerade unterdrückt, insofern gibt es durchaus eine für alle verbindliche Show, die sich sogar noch mit einer Showmasterin und einer Band als solche ironisch unterstreicht, aber nur, um sich schließlich selbst zeitweilig auszusetzen. Es dauert, bis den Zuschauern dämmert, dass sie jetzt keine mehr sind, dass erstmal nichts „kommt“ und sie es sind, die jetzt aufstehen und auf diese alten Menschen und ihre Geschichten zutreten müssen, dabei war man zum Auftakt ja gerade dazu ermutigt worden – aber so ist das eben. Im entscheidenden Moment fehlt die Regieanweisung den entscheidenden Schritt zu tun, denn man befindet sich ja auf der falschen Seite des Bühnengrabens. Auch wenn es gerade darum geht diesen zu überqueren.

Das Zirkuszelt war tags zuvor noch Spielplatz für Große gewesen, die für ein paar rauschhafte Stunden nicht mehr groß sein wollen und bunt verkleidet und im elektronischen Konfetti-Regen sozusagen das passförmig exakte Gegenstück zu vergegenwärtigter Geschichte ausprobiert hatten. Der Besucher tritt nach der etwa einstündigen „Show“ auf das Gelände des „Wannda Circus Open Air“ auf dem Kavalleriemarkt, eklektisch zusammengewürfelte und improvisierte Sitzgelegenheiten und ziemlich einsam, die Ruinen eines der wunderbar verrückten „kreativen Schlachtfelder“, die die Jugend so liebt, aber die Party ist vorbei. Es war drückend heiß, jetzt kündigt sich Regen an, und nach ein paar geplauschten Worten beginnt es zu stürmen, man muss sich um die Planen kümmern und sie festschnallen. Im Zelt selbst hängen noch zwei von der Party am Tag zuvor übriggebliebene Luftballons unter der Decke, während der „freie Himmel der Geschichte“, von dem Walter Benjamin sprach, direkt über ihnen durch eine kreisrunde Öffnung hereinscheint. Auf dem einen steht „SO WHAT“, auf dem anderen „OMG“. Oder umgekehrt.

„Als würden wir den Frieden schon kennen“ findet noch täglich bis Mittwoch, dem 31., statt, auf dem Kavalleriemarkt am Leonrodplatz, im „Wannda Circus“. Beginn ist jeweils um 19 Uhr.

photocredits: Marcus Antritter

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