Kurios, Leben

Synästhesie am Tatort

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Klangbild eines Tatorts

Die Sinneswahrnehmung von Menschen mit Synästhesie ist anders: Töne bilden Farben, Stimmen haben Oberflächen, Geräusche sind fühlbar. Im Film ergibt diese Verknüpfung der Sinne ein ganz eigenes Bild. Die Beschreibung eines Tatorts, wie man ihn sonst nie sehen wird.

Blecherne Töne begleiten jeden Augenaufschlag, bis das Fadenkreuz die Iris fixiert. Der Tatort beginnt. Mit seinem Vorspann aus blinkenden Farben, hektischen Bildern und dem Wechsel der dumpf-klirrenden Töne lädt er ein: zu Gewalt und Verbrechen. Und das seit Jahrzehnten unverändert.

„Das passt überhaupt nicht zusammen. Das ist eigentlich schon fast eine Vergewaltigung.“. Stefanie lacht, als sie das sagt. Der Vorspann des aktuellen Münchner Tatorts „Am Ende des Flurs“ rauscht an der 24-Jährigen vorbei. Was sie da vor sich sieht und hört, irritiert sie. Denn Stefanie schaut auf noch mehr als nur auf die Fernsehbilder: Sie SIEHT auch die Musik. Als „Synästhesie“ wird diese Wahrnehmung bezeichnet, bei der Menschen verschiedene Sinneseindrücke miteinander verknüpfen – so wie Stefanie Töne und Bilder. Als die ersten Klänge des Tatort-Vorspanns ertönen, rauschen vor ihren Augen weiße Haken durch das Bild, die sich mit zunehmender Tonhöhe zu weißen Strichen verkürzen. Der Untergrund ist schwarz. Als die Musik schneller wird und der Bass einsetzt, beginnen helle Tupfen vor ihr auf und ab zu hüpfen, bis sich eine Spur aus hellem Grau, Blau und Weiß über sie legt, hinter der die Tupfen nur noch zart hervorschimmern. Die grellen, bunten Farben auf dem Bildschirm haben nichts mit den Farben dieser Klangbilder gemeinsam. Während sich für Stefanie mit jedem Ton ihre Bilder verändern, wechseln die Fernsehbilder in einem viel langsameren Rhythmus. Musikbild und Fernsehbild passen für Stefanie einfach nicht zusammen.

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Die Musik des Tatort-Vorspanns setzt sich bei Stefanie aus mehreren einzelnen Formen zusammen: Hier sind zwei davon, die einsetzen, nachdem das erste Mal im Vorspann das Wort „Tatort“ aufblinkt und dann zerrissen wird.

Die Musik des Tatort-Vorspanns setzt sich bei Stefanie aus mehreren einzelnen Formen zusammen: Hier sind zwei davon, die einsetzen, nachdem das erste Mal im Vorspann das Wort „Tatort“ aufblinkt und dann zerrissen wird.


Stefanie kann diese Bilder nicht beeinflussen. Unwillkürlich löst bei ihr ein einzelner Sinnesreiz eine weitere Sinneswahrnehmung aus – das ist Synästhesie. Diese Wahrnehmung ist zwar anders als die der meisten Menschen, sei aber „keine Krankheit“, wie Prof. Dr. Beat Meier von der Universität Bern betont. In Stefanies Gehirn könnten lediglich zusätzliche Verbindungen existieren, die zum Beispiel die Seh- und Hörareale miteinander verknüpfen. Diese Kopplungen könnten auch bei Nicht-Synästhetikern vorhanden sein. „Eine Hypothese ist, dass wir alle mal Synästhetiker waren, aber das Gehirn im Laufe der Entwicklung bestimmte Kopplungen abbaute. Diese Nervenbahnen liegen aber immer noch da. Es sind nur die Aktivierungen, die gehemmt sind.“, erklärt Meier. Man gehe von einer Vererbbarkeit der Synästhesie aus, wenngleich die Gene dafür bisher noch nicht identifiziert wurden. So kann es sein, dass in einer Familie ganz unterschiedliche Formen der Synästhesie vorkommen: Der eine sieht Töne, der andere schmeckt Formen, der nächste riecht Buchstaben. Zwei bis fünf Prozent aller Menschen sollen synästhetische Wahrnehmungen besitzen.

Stefanie sieht ihre Klangbilder wie auf einer Leinwand vor sich, in der die Farben und Formen ineinander übergehen und sich bewegen. Als im Tatort die Nachbarn des Opfers befragt werden, sieht sie mit jedem Türklingeln kleine weiße Kügelchen auf ihrer Leinwand tanzen, gefolgt von schwarzen Blitzen, wenn die Türen wieder dumpf ins Schloss fallen. Auch die hellen, runden Formen eines Hundebellens finden sich in ihrem Bild wieder. Es scheint so, als wäre die Leinwand um ihren ganzen Körper gespannt, denn während sie die Töne und Geräusche beschreibt, zeigt sie mit ihren Händen mal nach hinten, mal nach rechts und mal nach oben. Ganz so, als bezöge jeder Klang seine eigene Position.

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So sieht Stefanie die Stimme von Kommissar Leitmayr: Eine schwarze Welle auf einem grauen Hintergrund


Immer wieder ringt Stefanie mit den richtigen Worten, um ihre Bilder zu beschreiben: Ist das Flussrauschen mehr eine helle Fläche, die weiß glitzert? Oder blitzen weiße Flächen nur kurz auf? Diese Kleinigkeiten zeigen, wie oft die Worte nur eine Näherung ihrer Bilder sind. „Synästhesie ist etwas, was man nicht mit anderen teilen kann.“, sagt Stefanie. Deswegen spricht sie auch fast nie darüber, denn bei anderen löse das oft Unbehagen und Ablehnung aus. Keine ungewöhnliche Reaktion, wie Dr. Markus Zedler von der Medizinischen Hochschule Hannover erzählt: „Synästhesie nach außen zu tragen ist relativ schwierig. Nicht selten wird es in unserer Gesellschaft als eine Behinderung wahrgenommen.“ Stefanie relativiert lachend: Solche Reaktionen seien ja auch verständlich, das klänge alles ziemlich seltsam – Töne hören und so. Sie wisse natürlich, dass mit ihr alles in Ordnung sei. „Ich traue mich aber nicht mit meinen Freunden darüber zu reden. Ich denke, das macht dann was kaputt.“ Selbst in Fachkreisen ist Synästhesie nicht weit bekannt: Als Stefanie in ihrer Ausbildung zur Ergotherapeutin bei Forschern, Psychologen und Ärzten danach fragte, erntete sie nur Ahnungslosigkeit.

Wie viele Synästhetiker besitzt auch Stefanie mehr als die eine synästhetische Wahrnehmung, die Töne und Bilder miteinander koppelt. So sind auch Buchstaben und Zahlen für sie farbig: Das Wort „Tatort“ setzt sich beispielweise aus dunkelbraunen t’s, einem dunkelroten a, einem gelben o und einem dunkelgrauen r zusammen. Dies führt dazu, dass sie nicht nur die Stimmen der Kommissare als helle Zacken oder dunkle Wellen sieht – auch das Gesagte an sich besitzt durch seine Wörter Farben. So bleibt sie beim Tatort manchmal an einzelnen Wörtern hängen: Am dunkelroten Steinmeier und Steinbrecher, am hellgrünen Steinbrenner – oder wie auch immer der neue Gerichtsmediziner nun heißt. Oder an der beiläufig erwähnten dunkelroten Alexanderstraße 12, anhand derer Stefanie sich merken kann, wo das Opfer gewohnt hat.

Stefanies Wahrnehmung mancher Töne und Geräusche kann so intensiv sein, dass es über das Sehen von Farben hinaus geht und körperlich spürbare Empfindungen auslöst. Der für sie cremefarbene Schlag ins Gesicht eines Polizeibeamten bewirkt nicht nur das Spritzen des Bluts auf dem Bildschirm, sondern auch in ihrem Gesicht eine unangenehme Empfindung: „Es tut nicht weh. Aber es fühlt sich an, als wäre jeder Schutz auf einmal weg. Irgendwie habe ich dann das Gefühl, mir die Nase halten zu müssen, damit es mich nicht erwischt.“

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Kommissar Batics Stimme hat für Stefanie zwei Formen: Normalerweise ist seine Stimme dunkel, durchsetzt mit kleinen hellen Kügelchen (Bild unten). Spricht er jedoch laut und aggressiv, bündeln sich die kleinen Kügelchen in seiner Stimme und nehmen eine helle Zick-Zack-Form an (Bild oben).


Wenn so viele Bilder und Gefühle auf einmal erzeugt werden, kann man Filme dann überhaupt noch verstehen und genießen? „Es ist schon viel. Manches verschmilzt miteinander oder überlappt sich. Aber es ist immer nur eine Sache im Fokus. Die anderen Reize sind deswegen nicht weg, aber der Fokus liegt nicht auf ihnen. Das hört sich viel komplizierter an als es ist. Es ist eigentlich ganz normal.“ Stefanie schaut gerne Filme, auch zum Entspannen. Das macht sie am liebsten im Dunkeln. Denn Licht lenkt sie ab, ihre Wahrnehmung wird dadurch verfälscht. Trotzdem verpasst sie auch im Dunkeln immer wieder Schlüsselszenen und ist abgelenkt. Dann wird sie gerade von einem besonderen Geräusch oder einem besonderen Wort eingenommen – und genießt es, sich ihren Farben hinzugeben.

Abrupt endet der Tatort mit dem dunklen Flüstern von Kommissar Batic. Brutal setzt die Musik des Nachspanns ein, bunte Namen blitzen im Fadenkreuz auf und verschwinden wieder. Überrascht, ungläubig und ein wenig fassungslos schaut Stefanie auf den Bildschirm. Kann sie sich vorstellen, dass ihre Farben ein genauso plötzliches Ende hätten? Die Synästhesie einfach so verschwindet? „Das wäre ein Unding. Das wäre so, als würde man mir etwas amputieren. Die Farben geben mir Sicherheit. Ich bin dann nie ganz allein – die Farben sind ja da.“

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