Kultur, Live

Touch your disco-balls

Ina Hemmelmann

Pierre HENRY DISCOTHEQUE

Zwei mal 2 Meter purer Sex – getarnt in den Körpern zweier junger halber Halbgötter in Weiß – vertont in 45 Minuten Discopop deluxe: Eben erschien das Debutalbum „La Discothèque“ der Münchner Popcombo Pierre Henry, mit der wir uns im Sommer letzten Jahres schon mal vortrefflich vergnügt hatten.
Jetzt also: Das erste Album. Eine poppig-groovende Scheibe, die den lässigen Funk und glitzernden Glam der 70er und 80er zurück auf die Dancefloors der heutigen Tanzetablissements bringen will. Da mischen sich lockere Gitarrenriffs mit Synthie-Beats, die direkt vom Ohr in die Beine rutschen und selbige zum Tanz antreiben. Wir haben reingehört.

Das Intro führt für einen Augenblick jedoch erst auf eine falsche Fährte: Leichte Geigenklänge säuseln ins Ohr, man sieht förmlich die feine Hofgesellschaft in raschelnden Taftröcken und wiegenden Perücken übers Parkett flanieren, sich auf Chaiselongues räkeln und feines Gebäck knabbern, während überschäumender Champagner die Gläser und Kehlen hinab perlt – bis sich langsam ein erst leiseleichter, dann immer roher werdender Electrobeat zwischen die Streicher schleicht und sie schließlich vollständig überlagert.

Doch dann, die Texte – so falsch lag man womöglich gar nicht mit der dekadenten, lasterhaften Hofgesellschaft vor dem inneren Auge. Kurz gesagt: Hier geht’s um Sex in sämtlichen Variationen. Beispielhaft dafür die Metapherndichte in Disco Jesus, mit der Geschlechtsorgane aufgezählt werden – natürlich immer ganz professionell vor der Folie des Pop, ganz nach dem Motto „I’d love to ride your discostick.“
Heiß zur Sache geht’s auch in der ersten Singleauskopplung samt frisch veröffentlichtem Video zu Jean la Biffle, der lieblich gesäuselte Refrain „Oh mon amour, oh mon petit-four“, fast wie eine Liebeserklärung ins Ohr gehaucht, vernebelt für einen Augenblick die Sinne, und erst auf den zweiten Augenaufschlag entblößt sich hier die kinky Dimension mit kannibalistischen Tendenzen („Treat me like an animal, hold the leash and keep me tight. Feed me like a cannibal, ’cause you’re the meat I want to bite.“) Wer spricht hier eigentlich zu wem? Dass das nicht gar so eindeutig ist, gefällt!

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Unter dem schlagkräftigen Titel Touch my balls findet sich dann plötzlich keine weitere Textzeile mehr als die monotone Wiederholung der Titelzeile. Danke, die Message ist klar! Hat die Platte nun einen Sprung? Auch die geheimen Gefahren der Sexualität bleiben nicht ausgespart, werden leicht verdaulich verpackt und in Pophäppchen wie Lisa nails serviert, sofern man gewillt ist, bei der Übersetzung medizinischen Fachvokabulars ein Auge zuzudrücken: „You’re wearing clito-glitter to gloss over your tripper.“ Dann doch besser an sich selbst rumspielen und auf sich besinnen, wie in Superior Niveau – „I just wanna have sex with my ego.“

Und spätestens hier fragt man sich: Geht es vielleicht doch viel weniger um Sex denn Ego-Sex, Selbstinszenierung, die Selbstreflexivität des Pop und des Popmusikerdaseins an und für sich? Hier bei Pierre Henry werden musikalische Stile zitiert und Zitate aus schon tausendmal gehörten Lyrics montiert, ein Metasoundtrack des Pop-Music-Lifestyles konstruiert, wo natürlich auch Drogen nicht fehlen dürfen – wie in Let’s go disco: „The only thing we need is disco beat and speed.“. Bleibt nur zu hoffen, dass zu viel Selbstreferentialität nicht zu sehr zu Kopfe steigt und „Hello Peridol“ das Ende der Popstarkarriere einläutet.

Noch aber dreht sich die Discokugel und wirft glitzernde Lichtreflexe auf schweißglänzende Körperteile, wild in den Nacken geworfenes Haar und bebende Decolletés. Mal elektronisch roher, mal gitarrenlastiger, manchmal sogar fast schmuseballadenhaft (hach.) zieht sich durch „La Discothèque“ eine selbstironische Popstarattitüde (Man munkelt über gewisse Ähnlichkeiten zu Modern Talking), indem aus unzähligen Popsongs bekannte Klischees aufgegriffen, übertrieben und damit ausgetrieben werden. Post-Pop könnte man das nennen, gibt’s bestimmt auch schon, gibt ja schon alles heutzutage. Schluss gemacht wird hier jedenfalls mit der Sinnstiftung im Text, weil wir Hörer nun ja groß genug sind, um nicht in jede Liedzeile unseren ganzen Herzschmerz zu projizieren, uns aus jedem Vers eine persönliche Lebensweisheit abzuleiten und immer vom Text auf die Musiker resp. den Sänger der Boygroup zu schließen. Ironie stellen wir also fest als Stilmittel der Inszenierung – aber darauf beschränkt sie sich auch. Pierre Henry liefern handwerklich ganz und gar unironischen, rundum professionell produzierten Pop, „La Discothèque“ hat Hand und Fuß, klingt rundherum homogen und kann getrost auf repeat in Dauerschleife laufen, ohne zu langweilen.

Schonmal vormerken: Pierre Henry live im Pathos am 18. Juni!
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