Kultur, Nach(t)kritik

Frei Schnauze

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In der beliebten Rubrik „Very important things we learned about…“ wollen wir heute mal über Buchlesungen reden – aus aktuellem Anlass, versteht sich.

Flake_tastenficker_MCB

Flake
“Der Tastenficker”

(Schwarzkopf & Schwarzkopf)
München, Hugendubel, 23.04.2015

1   Wenn man auf eine bestimmte Art prominent ist – also zum Beispiel als Keyboarder des bekanntesten deutschen Rockexports Rammstein, kann man eigentlich über alles schreiben und das dann auch bedenkenlos vorlesen, es werden sich immer genügend Leute finden, die einem an den Lippen hängen und aufmerksam alle biographischen Details aufsaugen, die Kindheit und Jugend im Arbeiter- und Bauernstaat DDR so hergeben*.

Wenn man dazu noch ohne jede Selbstüberschätzung durchs Leben kommt und mit Lakonie, feinsinnigem Humor, genügend Marotten und im allerbesten Fall noch einer typischen Berliner Schnauze gesegnet ist, dann klingen die einfachsten Sätze entweder rührend ehrlich oder irre komisch – Beispiel: „Mein Problem ist, dass ich ganz schwer nein sagen kann. Bei der Stasi war ich aber nicht, da haben sie mich zum Glück nicht gefragt.“

Ebenfalls sehr hilfreich ist ein Talent zur freien Rede. So kann man zum Beispiel auf sehr launige Art eine Konzertreise als Toursupport von KISS ins brasilianische Outback beschreiben, ernsthafte und andauernde Probleme des eigenen Verdauungstraktes bildhaft schildern und der Enttäuschung über die Hinfälligkeit von einstmals glorifizierten Vorbildern Ausdruck verleihen, ohne ständig auf ein verknautschtes Manuskript starren oder – im schlimmsten Falle – einen Polylux benutzen zu müssen.

Es gibt tatsächlich nicht wenige Menschen, die im kompletten Fan- oder Touroutfit auf Buchlesungen erscheinen, auch wenn weder ein musikalischer Beitrag oder eine Moshpit vorgesehen sind und der Front- Of-Stage-Bereich aus säuberlich ausgerichteten Stuhlreihen besteht. Kann man sich merken.

Man sollte auch keine Angst davor haben, ungewöhnliche Themen und Randbereiche einer genaueren Beschreibung zu unterziehen (siehe 1), denn nur so lassen sich Geduld und Zuneigung des Publikums einschätzen. Wenn die besagten Stuhlreihen bei der ausführlichen Erörterung des Berufsbildes eines angehenden Werkzeugmachers inklusive penibler Angaben zu Bohrlängen, Gewindedurchmessern und statischen Testberichten bis auf den letzten Platz gefüllt bleiben, dann darf man sich seines Potentials als Entertainer doch sehr sicher sein.

Schonungslose Offenheit bis hin zur Selbstgeißelung wird einem in der Regel hoch angerechnet, also nicht nur aufzuzählen, was man kann (herumhampeln), sondern auch, wozu einem jegliche Begabung fehlt (Rhythmus halten, halbwegs fehlerfrei mit Instrumenten zu musizieren, singen). Das gilt im Übrigen (weil man ja gerade aus einem selbstverfassten Buch zitiert) desgleichen für‘s eigene literarische Talent im Bezug auf weitere mögliche Großprojekte – die grobe Skizzierung eines verworfenen Romanplots kann hier für zustimmendes Schulterklopfen und sogar Mitleid sorgen.

Von einer Überdramatisierung des Aufwachsens im Schurken- und Unrechtsstaat DDR sollte man tunlichst absehen, zum einen stehen angeborene Kurzsichtigkeit und weitere frühkindliche körperliche Beschränkungen nicht in ursächlich nachgewiesenem Zusammenhang zur schändlichen Arbeit des Politbüros, desweiteren würde das anwesende, überwiegend im Osten Deutschlands sozialisierte Publikum jede Abweichung von der wohlwollenden Nacherzählung in Anekdotenform als Kritik missverstehen – hier reicht also, wie sinngemäß gehört, der Satz „Ich verbrachte eine ausgefüllte und freudvolle Kindheit“ vollkommen aus.

Wichtig für die positive Bewertung des Leseabends ist das Timing des Abgangs, in Aussicht gestellte Zugaben und/oder zögerliche Aufforderungen ans Publikum, jetzt Fragen zum Gehörten zu stellen, sind da eher hinderlich, im speziellen Falle sähe man sich sonst mit Erkundigungen wie „Welche Marke an Schlauchbooten bevorzugen Sie?“, „Sind Sie über den aktuellen Beziehungsstand von Till Lindemann informiert?“ und „Wie sicher sind Sie, dass Ihr Herz wirklich am linken Fleck sitzt?“ konfrontiert. Fremdschamvermeidung darf hier als guter Dienst an der Sache verstanden wissen. Also: Tour im nächsten Jahr sicher, aber weniger Pyro, Autogrammstunde für Horst und Holger im Anschluss – Punkt.

* Wer jemals einer Live-Aufführung von Flakes früherer Band, der Magdalene Keibel Kombo, beigewohnt und dort das Stück „Graf Zahl“ bis zum Ende durchgestanden hat, der weiß, dass der Satz „Der Mann könnte auf der Bühne ohne Weiteres auch das Telefonbuch vorlesen“ genau da seine Schöpfung erfahren haben muss.

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