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Sendlinger Straße als Fußgängerbereich – Durchbruch nach fünfzig Jahren!?

Im „Idealplan“ für den Münchner Fußgängerbereich hatte dessen Autor, der renommierte Stadtplaner Jensen, 1965 vorgeschlagen, das gesamte historische Achsenkreuz, das die Identität der Münchner Mitte definiert, vom Hauptbahnhof bis zum Isartor sowie von der Feldherrnhalle bis zum Sendlinger Tor als Fußgängerbereich zu gestalten. Auch der Flächennutzungs-Grundplan der Stadt München von 1974 enthielt dieses Konzept mit leichten Abwandlungen (Tal nicht, dafür Dienerstraße und ein weiterer Umgriff des Sendlinger Tors mit der südlichen Herzog-Wilhelm-Straße sowie der Bahnhofsvorplatz). Wenn der Planungsausschuss der Stadt München am 09.12.2015 ein halbes Jahrhundert nach dem Vorschlag seines Gutachters eine versuchsweise Sperrung der Sendlinger Straße beschließen sollte (tat er vorerst nicht, Anm. d. Red.), würde er damit eine sachlich dringend überfällige Entscheidung treffen.

Die von einer Initiative „ProSendlingerStraße“ vorgebrachten Einwände richten sich nämlich nicht nur gegen die umfassend verstandenen Belange der Sendlinger Straße, sondern beeinträchtigen die Entwicklung der übrigen Innenstadt und auch der gesamten Stadt München.

sendlingerstraßeDie steigende Zahl der Passanten in der Sendlinger Straße muss berücksichtigt werden

Dies wird deutlich, wenn man einmal die Windschutzscheiben-Scheuklappen ablegt. Da wären als erstes die Passanten zu nennen, zu denen leider die Stadt bei ihren Vorbereitungen zum Versuch keine eigenen Erhebungen durchgeführt und auch keine fremden Erhebungen herangezogen hat. Ich selber habe 1993 zur Sendlinger Straße mit Studierenden der Universität Bayreuth an einem Dienstag von 8 bis 18 Uhr Passanten gezählt. Damals wurden in der westlichen Sendlinger Straße Spitzenstundenwerte von fast 3.200 und in der östlichen von gut 4.000 Passanten erreicht. Für 2015 liegen Passantenzählungen durch die in Hamburg ansässige Immobilienagentur Engel & Völkers in der westlichen Sendlinger Straße vor. Am Dienstag beträgt das Stundenmittel von 16 bis 18 Uhr 3.531 und am Samstag zwischen 12 und 14 Uhr 5.910 Passanten. Für den Dienstag bedeutet das hochgerechnet etwa 27.200 und für den Samstag 60.000 Passanten zwischen 9 und 21 Uhr. Gegenüber 1993 beträgt der Anstieg am Dienstag gut ein Drittel. Diese Passanten kommen leider in der bisherigen Argumentation überhaupt nicht vor. Es dürfte kaum eine andere deutsche Einkaufsstraße geben, wo ein so großer Passantenstrom zwischen Wällen parkender Autos eingezwängt wird!

Kaufinger und Neuhauser Straße brauchen Entlastung

Bezüglich des Passantenaufkommens gibt es noch einen weiteren wichtigen Grund für die Aufwertung der Sendlinger Straße, nämlich der Überdruck in der Kaufinger/Neuhauser Straße. München verkündet zwar immer wieder stolz, dass diese bei Zählungen in ganz Deutschland mit zuletzt stündlich 14.729 Passanten am Samstag Spitzenstellungen erreichen. Tatsächlich hat dieser Rekord schwerwiegende Nebenwirkungen, einerseits durch den Druck auf die immer stärker steigenden Ladenmieten und andererseits durch die Verärgerung der Besucher, von denen viele bei Befragungen über Hektik und Gedränge klagen. Die Sendlinger Straße erreicht derzeit samstags nur 40 Prozent der Neuhauser Straße.

Dass es auch ganz anders geht, zeigen gleichzeitige Zählungen in Hannover, das nach Engel & Völkers die größte deutsche Fußgängerzone hat. Obwohl Hannover nur gut ein Drittel der Einwohner Münchens zählt, erreicht seine Spitzenlage samstags mit 10.430 Passanten 71 Prozent der Neuhauser Straße. Die zweitwichtigste Straße erreicht in Hannover 94 Prozent, die dritte 72 , die vierte 68 und die fünfte 60 Prozent der dortigen Spitzenlage. Damit ergibt sich ein großzügiges Netz differenzierter Geschäftslagen mit jeweils eigenem Profil. Dazu kommt dort ergänzend am Cityrand das moderne ECE-Shoppingcenter Ernst-August-Galerie für die Fans dieses Angebotstyps.

sendlingerstraße3Geringe Anzahl an Parkvorgängen: Parkplätze von Dauerparkern belegt

Während zur Erfassung des Passantenaufkommens keine Mittel zur Verfügung standen, hat die Stadt München den fließenden Autoverkehr am Dienstag und die Park- und Liefervorgänge am Dienstag und Samstag erfasst. Von den 58 Stellplätzen der Sendlinger Straße waren am Dienstag 10 und am Samstag 13 durch Dauerparker belegt. Nur 31 bzw. 35 standen kürzer Parkenden zur Verfügung, die übrigen waren mit Ausnahmegenehmigung oder unter Überschreitung der Höchstparkdauer mehrere Stunden belegt. Bei einzelnen Rundgängen waren bis zu 21 Autos ohne oder mit abgelaufenem Parkschein abgestellt (eine Beobachtung, die wir bereits 1993 bei unseren Erhebungen gemacht hatten). Am Dienstag war bei Rundgängen um 10 und 15 Uhr kein einziger Stellplatz frei, hätte demnach ein in die Sendlinger Straße einfahrendes Fahrzeug dort nicht parken können. Am Samstag waren um 10 Uhr zwei und um 15 Uhr vier Stellplätze frei. Ohne die Dauerparker ergeben sich schätzungsweise 240 Parkvorgänge am Tag. Ihretwegen müssen werktags fast 30.000 und samstags 60.000 Besucher der Sendlinger Straße auf ein heutigen Standards entsprechendes, angenehmes Umfeld verzichten.

Der Freizeitwert bleibt ungenutzt

Ein wesentlicher Faktor für den Erfolg von Innenstädten und ganz allgemein von Städten ist deren Freizeitwert. Dieser verschafft Wettbewerbsvorteile beim Kampf um qualifizierte Arbeitskräfte, aber auch um qualifizierte Kunden. Einkaufen bildet nämlich zunehmend eine Freizeittätigkeit. Und dafür benötigt man nicht nur interessante Geschäfte, sondern auch ein attraktives Umfeld. Genau da bestehen erhebliche Defizite in der Sendlinger Straße, aber auch im anschließenden Hackenviertel, dessen Geschäfte zwar damit werben, „wo München noch münchnerisch ist“, diese Qualität in ihrem Umfeld aber trotz hervorragender Potenziale nicht in Wert setzen können. Ich selber habe 2006 mit Studierenden und Unterstützung des 1. Stadtbezirks Altstadt-Lehel eine umfassende Untersuchung durchgeführt und 2007 veröffentlicht. Die Stadt beschloss 2009 die Vergabe eines Gutachtens zum Hackenviertel. 2010 erteilte sie den Auftrag und diskutierte intern erste Ergebnisse. 2011 wurde das Gutachten vorgelegt und seine Behandlung im Stadtrat für Herbst 2011 angekündigt. Doch bis heute ist sie verschoben, weil man glaubte, noch genauere Untersuchungen zum Parken in Auftrag geben zu müssen, was ja, wie man weiß – trotz oft schlecht ausgelasteter Parkhäuser – die wichtigste Funktion der Münchner Innenstadt ist.

Durch die Jahrzehnte währende Untätigkeit der politischen Entscheidungsträger, das hervorragende städtebauliche Potenzial der Altstadt konsequent zur Geltung zu bringen, wird der mit der Einführung der Fußgängerzone 1972 erzielte WOW-Effekt weltweiter Anerkennung der damals neuen Gestaltungsmaßstäbe verspielt. Gerade angesichts ihrer starken Stellung wäre es eigentlich Verpflichtung für die Stadt, wieder eine Führungsrolle zu übernehmen. Mit Nürnberg und Regensburg hat man gute Beispiele vor der Haustüre. International hat Kopenhagen vorgeführt, wie eine konsequente Politik bei der Verkehrsentwicklung und Stadtgestaltung sowohl für das Image als auch für die (postmodern-kreative) Wirtschaft große Vorteile mit sich bringt.

 

Konsumorientierung, Bürgernähe, Aufenthaltsbedingungen – eine Frage der Abwägung

Die Sorgen der Bürgerinitiative ProSendlingerStraße müssen vor dem Hintergrund einer vorurteilsfreien Analyse abgewogen werden. Die Behauptung, die Sendlinger Straße sei „bereits ein öffentlicher Raum – und zwar ein sehr lebendiger, der im Vergleich zu der bereits bestehenden sterilen und rein konsumorientierten Fußgängerzone sehr viel mehr Bürgernähe besitzt“, erscheint angesichts der absolut nicht mehr zeitgemäßen (bzw. überhaupt nicht bestehenden) Aufenthaltsbedingungen für Fußgänger nur aus der Windschutzscheibenperspektive nachvollziehbar. Durch Fußgängerzonen verstärkt steigende Mieten sind sicher bedauerlich, aber erstens steigen diese ohnehin und zweitens verstärkt die im Unterschied zu Hannover viel zu enge Konzeption – statt eines qualitativ zeitgemäßen Haupteinkaufsbereichs und eines Netzes von ergänzenden Nebengeschäftslagen (z.B. im Hackenviertel) – im jetzigen Fußgängerbereich gerade die unerwünschten Entwicklungen.

Rolf Monheim ist Professor i.R. für Angewandte Stadtgeographie und Stadtplanung an der Universität Bayreuth.

Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe zum Thema ‚Bürgerbeteiligung, Partizipation und Ehrenamt in München‘ des Magazins Standpunkte vom Münchner Forum.

Fotocredits: (1) Flickr/Digital Cat via CC BY 2.0 Lizenz (2) Flickr/ Ulrich Vismann via CC BY 2.0 Lizenz (3) Flickr/Ben Garrett via CC BY 2.0 Lizenz (4) (5) © Baureferat, LH München

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