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Das ist Kunst und das kann weg (2) – Theater ohne Bühne

Juliane Becker

Früge man einen durchschnittlichen Menschen jenseits der 60, was er denn unter dem Begriff “Theater” versteht, so würde besagter Mensch, der wahrscheinlich Hermann oder Helmuth heißt, auf die Kammerspiele deuten und “Das ist für mich Theater” sagen. Anschließend käme vermutlich ein erboster Vortrag darüber, wie Simons und Lilienthal und all diese Spinner diese ehrwürdige Spielstätte in den Ruin trieben, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit.

Ich weiß nicht, was passieren würde, konfrontierte man einen Kevin, sprich einen jugendlichen Menschen zwischen dreizehn und siebzehn mit dieser Frage. Wahrscheinlich würde Kevin den Begriff kennen, weil Fack ju Göthe irgendwas damit zu tun hatte, aber zu weit werde ich mich diesbezüglich nicht aus dem Fenster lehnen. Nicht-geisteswissenschaftliche Menschen würden ebenfalls prustend abwinken und sich wieder in eines ihrer MINT-Bücher vertiefen, um später mal einen gutbezahlten Job zu ergattern. Und geisteswissenschaftliche Menschen müssten erst einmal zwei Essays und drei Doktorarbeiten zu dieser Frage lesen und sechs Selbstgedrehte rauchen, um auf einem angemessenen Niveau darüber zu diskutieren, und dafür haben wir nun wirklich keine Zeit.

Fest steht jedenfalls, dass sich der Theaterbegriff in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Still und leise hat sich das elitäre Theater von der samtbevorhangten Bühne verabschiedet und ist partiell in den öffentlichen Raum eingetreten – begonnen hat das vermutlich schon mit dem Wiener Aktionismus, spätestens aber mit Marina Abramović und Christoph Schlingensief und all den Leuten, die das machen, was gemeinhin als Performance bezeichnet wird: Theater und Realität vermischen sich zu einer undurchschaubaren Suppe, die jeden unbedachten Zuschauer sofort aufs Glatteis führt. Gemein, eigentlich.

Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht mehr trennen zu können. In Birdman flippt Edward Norton bei einer Hauptprobe vor versammelten Publikum aus und stürmt von der Bühne. Als ich das gesehen habe, habe ich mir nur gedacht: Unter Garantie hätte ich das für einen Teil der Inszenierung gehalten. So etwas passiert mir ständig. Vor einem halben Jahr war ich in einer Inszenierung, in der der Hauptdarsteller ständig seinen Text vergaß. Ich war davon überzeugt, dass das genau so beabsichtigt war. Ob das wirklich stimmt oder ob der gute Mann einfach in Rente gehen sollte, weiß ich bis heute nicht. Noch ein paar Monate früher ist mal ein Zuschauer in der ersten Reihe während der Vorstellung ohnmächtig geworden. Selbstverständlich habe ich auch da gedacht, dass das alles geplant war.

Mittlerweile hat diese Vermischung selbst in die populären Medien Einzug gehalten und verwirrt dort, wen wundert das, noch weitaus mehr Menschen. Money Boy ist das perfekte Beispiel für eine Kunstfigur, bei der man nicht weiß, wo Sebastian Meisinger anfängt und der Boy aufhört. Dazu muss man wissen: der Mann hat einen Magister der Philosophie von der Universität Wien und seine Abschlussarbeit über die Rezeption von Gangsta-Rap in Deutschland geschrieben. Zahlreiche Interviews mit ihm legen aber nahe, dass die Kunstfigur Money Boy mittlerweile überhand genommen und, einem tödlichen Virus ähnelnd, den Körper des Wirts nun vollständig unter Kontrolle hat.

Dabei muss so eine Ich-Abspaltung nicht zwingend in einem Desaster enden. Lukas Strobel aka Alligatoah hat diese Technik zur Perfektion gebracht und verkauft das Ganze unter dem Begriff Schauspielrap. Das ermöglicht es ihm, vom notorischen Fremdgänger bis hin zum porschefahrenden Schulabbrecher temporär so ziemlich jede Figur zu verkörpern, die die Fantasie hergibt. Ich halte das für sehr gesund. Die Antike hat den Begriff der Katharsis, der inneren Reinigung geprägt, bei der die Seele durch das intensive Ausleben von Emotionen gesäubert wird. Und wenn ich mir den tiefenentspannten Herrn Strobel so anschaue, scheint das gut zu funktionieren. Ohne seine Schauspielrapkarriere wäre er vermutlich bestenfalls ein unerträglicher Mensch.

Will sagen: wahrscheinlich ist es gar keine so schlechte Idee, sich seine ganz persönliche Kunstfigur zu erschaffen und auch ohne Bühne ein wenig Theater zu spielen. Das soll nicht heißen, dass man ständig einen Fake verkörpert und niemandem sein wahres Ich zeigt – aber lustig kann das schon ab und zu sein. Ich zum Beispiel gebe mich in meinem hochnäsigen Akademikerumfeld gerne als versierte Theatergängerin aus, deren liebste Freizeitbeschäftigung es ist, absurde Mengen an Rotwein zu trinken und kettenrauchend Michel Houellebecq zu lesen, weil man das als Geisteswissenschaftler nun mal so macht. Insider wissen jedoch, dass ich für eine erfolgreiche Abendgestaltung wenig mehr brauche als eine Tafel Oreoschokolade und eine YouTube-Playlist voll mit Katzenvideos. Aber das ist relativ uncool, also sagt das nicht weiter.


 

Bildquelle: Residenztheater via Facebook

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