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Frei&Liebe (5): Die Schwerelosigkeit, regellos

Sharon Brehm

Augen zu.

Ich schmiege mich in deine Arme und ignoriere frech den Rest der Welt. Blende aus, welch sympathische Fangnetze Beziehungen anhaften. Kein Moment des freien Falls, in dem wir eisern Sekunden zählen. Sondern Schwerelosigkeit. Vergessene Wunden, missachte Normalität, ignoriere Zeit.

Die meisten Skripte zwischen zwei Personen sind dominiert von tragischen Geschichten, vergangenen und gerade zu drehenden. Ja, vielleicht sind wir wirklich alle kaputt und innerlich zerstört, zerstörend. Gedanklich und bis in die Unendlichkeit an schmerzhafte Liebschaften gekettet. Rechtfertigen damit unsere eigenen Unzulänglichkeiten, den eigenen Egozentrismus, die Ignoranz gegenüber neuer Schönheit. Zu viel Ballast und Bodenhaftung in den meisten Geschichten. Doch du warst ein Mix aus wild und zertanzt und schwerelos, inmitten von Glitzer und Festivalutopie.

Und vielleicht ist es genau die Abwesenheit von Gewicht, die mich so in den Bann gezogen hat. Im Nachhinein finde ich keine bessere, schlauere Erklärung. Alles mit dir war unverschämt leicht. Keine Forderungen. Keine Dramatik. Keine Versprechungen. Keine gespielten Blicke. Kein Taktieren. Kein Ertragen. Keine Beziehung. Einzig Schwerelosigkeit wie im All. Nur eine Frage, frech, von mir. Und du, genauso frech, gehst du auf mein Angebot ein.

Wenn Realität schöner als Utopie ist

Denn in unserer kurzen Schwerelosigkeit gibt es eben keine Regeln – keine Erdanziehungskraft, erste Schritte sind nicht mehr nur etwas für Eroberer, Intimität ist nicht exklusiv, Nähe entsteht mit der ersten Berührung und nicht über Dauer. Deswegen darf ich mich auch in dich verlieben. Ausnahmsweise. Auch nur für Sekunden. In deinen festen Griff, in deinen Atem auf meiner Haut. Deswegen darf auch Realität schöner als Erwartung sein. Ohne Angst vor dem Fall zu haben.

Ich muss einfach lachen und grinsen und meinen Körper vom Beat treiben lassen, obwohl es bereits morgen ist. Obwohl mir in der Sonne zu warm ist, lasse ich deine Nähe zu. Obwohl wir beide müde sind, können wir nicht ruhig bleiben. Obwohl es keine Intention gibt, ist es doch intensiv. Obwohl du mir fremd bist, schmecken deine Küsse vertraut. Du grinst noch mehr, überall Kribbeln und Rausch.

Selbst in der Erinnerung bist du ganz klar, selbst jetzt, während ich schreibe, kann ich mich von dieser Schnelligkeit nicht lösen. In deinem Gesicht ist all der Glitzer, der sich davor auf meine Augen legte. Deine Augen sind grün. Ich schließe meine. Tanzen, in der Musik versinken. Du hebst mich hoch, ich fühle mich leicht. Genug.

Augen auf.

Der Moment ist vorbei. Mars und Milchstraßen sind eben nicht für die Ewigkeit gedacht, und nicht enden wollende Küsse müssen nun mal enden. Astronautinnen wissen das und bereuen nicht die Intensität, die Kürze, den Muskelabbau im Weltall. Schwerelosigkeit lebt davon, dass es irgendwo anders Ballast gibt und hier, zwischen uns, ausnahmsweise nicht. Schwere, das überlasse ich gerne der Beständigkeit, der steten Wiederholung. Mir gönne ich, ganz unverschämt in unserer tragischen Welt, Leichtigkeit für eine Millisekunde. Und dann am Boden der Tatsachen, mache ich die Augen zu und tanze.

Eine monatliche Liebeskolumne.


Fotocredits: Franca Gimenez via CC2.0

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