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Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich – Armut in einer reichen Stadt

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Arm zu sein, so zitierte Alt-Oberbürgermeister Georg Kronawitter gelegentlich aus einem Brief einer Münchner Bürgerin an ihn, sei ein Lebensschicksal, mit dem man sich arrangieren könne. Aber arm zu sein in einer reichen Stadt wie München, das sei eine nahezu nicht ertragbare Ausgrenzung aus dem sozialen Leben.
Ein Text von Detlev Sträter

Armut in einer reichen Stadt

Natürlich sind jedem schon einmal bettelnde Menschen in München aufgefallen, deren Zahl nach der Grenzöffnung zu Osteuropa deutlich größer geworden ist.

Natürlich weiß man von Obdachlosen, die unter Brücken, auf Münchner Friedhöfen oder Behausungen an Isarhängen leben. Natürlich sieht man Flaschensammler und andere, die Abfallbehälter durchsuchen.

Deren Zahl ist schon erschreckend hoch, sie erfasst das Problem aber nur zu einem geringen Teil. Denn ein Großteil der Armut ist nicht so offensichtlich, zeigt sich kleinteilig in Stadtvierteln, zeigt sich auch an der Nicht-Wahrnehmung von kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Angeboten.

Armut spaltet die Gesellschaft; Armut grenzt aus.

Armut wird zumeist vor Ort, lokal und kommunal, wahrgenommen. Die Ursachen von Armut sind auf anderen Feldern zu suchen. Sehr häufig in der fehlenden oder mangelnden Erwerbsarbeit, dem Schlüsselbereich gesellschaftlicher Integration, aber auch im teuren Wohnen und den spekulativ erhöhten Boden- und Mietpreisen, die von immer weniger Menschen aufgebracht werden können.

Verbreitete Armut erleichtert die Vertreibung wirtschaftlich schwächerer Bevölkerung aus begehrten Quartieren auf dem Wege der Gentrifizierung erheblich. Gemeinhin ist die Kommune die Ebene, auf der von Armut betroffene oder von Armut bedrohte Menschen konkrete Hilfe erwarten können; die Instrumente zur Armutsbekämpfung werden rechtlich und materiell zum größten Teil von Bund und Land gestaltet.

Armut, so wurde lange verbreitet, sei ein individuelles Schicksal, das Menschen aus unterschiedlichen Gründen ereilt: durch Krankheit, durch fehlende Arbeit, durch familiäre Krisen, durch Unfälle – Ereignisse, von denen man sich nur schlecht oder gar nicht erholt, wenn man keine Hilfe bekommt.
Für diese Menschen gab es die „Fürsorge“, kirchliche oder kommunale Einrichtungen, die schon in der frühen Neuzeit vor Jahrhunderten dazu verhalfen, das Schicksal jener Menschen, die aus dem sozialen Leben herausgefallen waren oder herauszufallen drohten, etwas zu erleichtern, indem ihnen etwas zu essen oder ein Dach über dem Kopf gewährt wurde Linderungen des individuellen Schicksals eben.
Der Begriff der Fürsorge hat sich bis in jüngste Zeit erhalten. In ihm schwingt die persönliche Hilfe („für jemanden sorgen“) mit: den von Armut betroffenen Menschen – selbstverschuldet hin oder her – wird geholfen.

Die lange Geschichte von Armut

Diese individuelle Sichtweise von Armut änderte sich mit dem Aufkommen und der Durchsetzung der industriellen Produktionsweise. Die Verelendung eines Großteils der Landbevölkerung aufgrund einer effektiver werdenden Landwirtschaft wirkte als Treiber, diese „überschüssige“ Landbevölkerung in die Städte zu spülen – auf der Suche und in der Hoffnung auf Überlebensquellen. Faktisch generierte dies die Arbeiterschaft für die rapide wachsenden Industrien. Ihre unmittelbare Not wurde gelindert, ließ aber Armut nicht verschwinden, sondern reproduzierte sie auf immer neue Weise.
Und formte die Erkenntnis, dass Armut nicht nur ein individuelles Schicksal von Menschen am unteren Rand der Gesellschaft ist, sondern eine weit verbreitete, gesellschaftlich produzierte Lebenslage von Menschen, die mit ihrer Arbeit für den Wohlstand aller sorgen, an diesem aber selber nur wenig teilhaben.
Armut war geradezu die Voraussetzung dafür, sich als Arbeiter verdingen zu müssen, um darüber am Ende nicht viel mehr als sein eigenes Überleben und das seiner Familie mehr schlecht als recht zu sichern. Wer wollte, konnte schon damals in der Armut und der Armutsproduktion die Auswirkungen eines gesellschaftlichen (ökonomisch-rechtlich-sozialen) Mechanismus‘ – und nicht allein ein individuelles Schicksal – erkennen, der dafür sorgt, einem anderen Teil der Gesellschaft zu enormem Wohlstand und damit auch Macht zu verhelfen.
Bertold Brecht packte dies in die anschaulichen Zeilen (1934): „Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah‘n sich an // Und der Arme sagte bleich: / „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“
Dennoch dominierte lange die eher individualistische Sicht von Armut als Summe menschlicher Einzelschicksale. Insbesondere bei den wirtschaftlichen und politischen Eliten, die von dieser Betrachtungsweise profitieren. Denn die Einsicht, dass Armut und Reichtum im Grunde die zwei Gegenpole einer sozial und wirtschaftlich auseinander driften – den, nach Klassen, Schichten und Lagen gespalteten Gesellschaft markieren, hätte ja insbesondere die armen Bevölkerungsteile zum Handeln zwingen müssen.
So konnte mit der Verankerung des Sozialstaates nach dem 2. Weltkrieg zumindest in den meisten entwickelten Ländern und auch in Deutschland der Konflikt gedämpft werden: mit den Ausgleichsinstrumenten der Sozialgesetzgebung, Sozialverwaltungen und weiteren Regelungen wurden krasse Verarmungstendenzen aufgefangen und abgefedert. Es wurde aber auch verhindert, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht allzu weit öffnete. Dazu dienten unter anderem relativ hohe Einkommens-, Vermögens- und Kapitalertragssteuern.
Von diesem Modell des Sozial- und Wohlfahrtsstaates hat sich Deutschland, wie fast alle entwickelten Industrieländer, in den letzten Jahrzehnten zunehmend verabschiedet.

Heute: Neoliberalismus vs. Sozialstaat

Der Neoliberalismus, der nunmehr seit über 30 Jahren die Grundmelodie für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in den Ländern des Kapitalismus beherrscht, hat unter dem Gerede von den Globalisierungszwängen, dem Reformstau und dem demografischen Wandel „den Markt“ und „den Wettbewerb“ als „kluge Entscheider“ in die öffentliche Diskussion lanciert. Klüger jedenfalls, als demokratische Institutionen und Bürgerinteressen seien und die Politik „hat verstanden“, dass Demokratie und „parlamentarische Mitbestimmung“ „marktkonform“ (Angela Merkel) sein müssen.
Die Wirtschaft und die Eliten müssen also von allzu strikten sozialen Leitplanken, Kapitalverwertungshemmnissen und sonstigen Beschränkungen ihrer Vermögensverfügbarkeit befreit werden. Bereits in den 1990er Jahren hat Merkels Partei als Regierungskoalition mit den Liberalen dafür gesorgt, dass mit der Abschaffung der Vermögenssteuer und anderer Erleichterungen auf der Seite der Besitzer, Unternehmen und Entscheider sich enorme Vermögenswerte zu Lasten des Gemeinwesens auftürmen konnten.
Und die erste rot-grüne Koalition war dazu auserkoren, zur Gegenfinanzierung dieser Vermögensanhäufung – unter dem Versprechen, zur „Modernisierung“ des Sozialstaates beizutragen – mit der Agenda 2010 und den sog. Arbeitsmarktreformen, den Hartz-IV-Getzen, der Rentenreform und der Teilprivatisierung der Altersrente sowie der Gesundheitsreform den größten öffentlichen Einsparungs- und sozialen Entsicherungsprozess in Deutschland einzuleiten.

Durch diese Politik wurde zweifellos die Armut gezielt vergrößert.

Die Leistungskürzungen trafen und treffen die sozial Schwächsten: Arme, Alte, (Langzeit-)Arbeitslose, (psychisch) Kranke und Menschen mit Behinderungen.
Das, was als Armut angesehen werden und was unter Armutsbekämpfung fallen soll, ist erwartungsgemäß strittig. Viele halten die unmittelbare Abhilfe bei Hunger und Obdachlosigkeit (absolute Armut) für ausreichend – schließlich seien die Menschen ja auch für sich selbst verantwortlich („fördern und fordern“). Das ist eine Haltung, die man vielfach in bürgerlichen Milieus antrifft, auch bei denen, die gerne bei der Lebensmittelausgabe der Tafeln helfen – wohl zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Mit dem Hinweis, dass es Menschen in afrikanischen oder asiatischen Ländern ja noch dreckiger gehe, wird vielfach bestritten oder bagatellisiert, dass es hierzulande überhaupt relevante Armut gibt.
Sozialpolitisch bedeutender ist indes der Begriff der relativen Armut in Bezug zu einem Referenzwert. Die relative Armut triff dann zu, wenn das individuelle bzw. Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des „Median“-Einkommens beträgt. Heißt das Einkommen, dass auf einer Einkommensskala von geringen und hohen Einkommen in der Mitte steht.
Über diese Armutsschwelle besteht zwischen den EU-Ländern Konsens; diese wird sowohl von der Armutsberichterstattung in den „Armuts- und Reichtumsberichten“ der Bundesregierung (seit 2001, bisher vier Berichte) als auch der Armuts- (und Reichtums-)Berichterstattung der Stadt München (seit 1987) verwendet.

Je wohlhabender das Land, desto rigoroser wird Armut geleugnet

Eine Beobachtung kennzeichnet die Diskussion um Armut in Deutschland: Je wohlhabender das Land in toto im Laufe der Jahre wurde und je weiter sich dabei die Einkommens- und Vermögensschere öffnete, desto rigoroser wird Armut geleugnet, desto aggressiver werden jene attackiert, die die schlechte
Botschaft von der Armut im reichen Deutschland überbringen, und desto strikter wird ihnen das Recht abgesprochen, jenseits von Obdachlosigkeit oder
anderen extremen Erscheinungsformen der Not überhaupt von Armut zu sprechen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband, der seit Jahrzehnten periodisch und seit einigen Jahren jährlich einen regional differenzierten Armutsbericht veröffentlicht, hat dazu viel Erfahrung sammeln dürfen. Es drängt sich der Eindruck auf: Mit anschwellendem Protest gegen
zunehmende Armut und ungerechte Ungleichverteilung und immer lauter werdenden Rufen nach einer dem Gemeinwesen förderlichen und solidarischen Steuer- und Finanzpolitik wächst in gleichem Maße auch der Widerstand derer und ihrer publizistischen Sekundanten, die dabei etwas zu verlieren haben.
Das ist der offenkundige Versuch, Armut wieder auf ein absolutes Maß zu reduzieren, sogar auf pure physisch-existentielle Not, auf extreme Deprivation. Seine nur notdürftig kaschierte Botschaft lautet: Da Alleinerziehende in Deutschland offenkundig noch nicht unter Brücken schlafen müssen und Rentner in aller Regel nicht bettelnd durch die Straßen ziehen, gibt es offensichtlich auch keine Armut in Deutschland.

Es ist ein Rückfall auf den absoluten Armutsbegriff.

Es ist ein Rückfall auf einen absoluten Armutsbegriff, der Armut erst dann erkennen will, wenn die Befriedigung elementarer, physischer Grundbedürfnisse zur Disposition steht. Es ist der Rückfall auf eine Position, Armut so lange zu leugnen, wie man ihr irgendwie ausweichen kann. Es ist der Versuch, die Armut wieder auf Elend zu reduzieren.
Dabei gibt es, zumindest in Bayern, die Möglichkeit, der erzwungenen Armut etwa über den Weg des Ausschlusses von der Erwerbsarbeit durch Verweis auf die Landesverfassung und ihre Bestimmungen zu entgehen: „Jedermann hat das Recht, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen,“ legt die Bayerische Verfassung in Art. 166 Abs. 2 fest, denn „Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter dem besonderen Schutz des Staates“ (Art. 166 Abs. 1).
Und auch gegen schädliche Vermögensanhäufigungen ohne gemeinwirtschaftlichen Nutzen bietet die Landesverfassung einen Hebel, wenn sie eindeutig feststellt: „Eigentum verpflichtet gegenüber der Gesamtheit. Offenbarer Mißbrauch des Eigentums- oder Besitzrechts genießt keinen Rechtsschutz.“ (Art. 158 BV)
Mir ist nicht bekannt, ob eine der im bayerischen Landtag vertretenen Parteien je einen Anlauf unternommen hat, hierzu Umsetzungsschritte vorzuschlagen und in Maßnahmen zu gießen – was die von politischer Seite immer wieder vorgebrachten Beteuerungen, man könne ja gegen Armut, Arbeitslosigkeit und ungleiche Vermögensverteilung nichts unternehmen, als den politischen und sozialen Zynismus decouvriert, der er ist.
Armut in einer reichen Stadt – etwa jeder fünfte in München lebende Mensch ist arm oder von Armut bedroht, Tendenz steigend. Zugleich wächst der Anteil derer, die als reich und vermögend gelten. Wie lange die Stadtgesellschaft diese Zerreißprobe erträgt, ist nicht abzusehen. Dass München eine reiche Stadt ist, in der der Wohlstand zu Schau getragen wird und die Lebenshaltungskosten via Wohnzins und anderer Profitquellen nach oben getrieben werden, verschärft das Armutsproblem nur noch krasser. Und die Armut in der Stadt wird mit den kommunalen Möglichkeiten und Mitteln allein auch nicht dauerhaft wirksam bekämpft werden können. Armutsbekämpfung und Eindämmung privater Vermögensexzesse ist und bleibt kommunale und gesellschaftliche Aufgabe, will man das Feld nicht denen überlassen, die dafür allzu einfache Antworten anbieten.

Der gesamte Artikel von Detlev Sträter erschien zuerst im Münchener Forum

Zum Weiterlesen:
Wolfgang Görl: Geschlossene Gesellschaft. Mehr als 250.000 Münchner sind arm oder von Armut bedroht. Doch sie tun alles, um ihre prekäre Lage zu verbergen. Gerade da, wo der wirtschaftliche Erfolg zur Schau getragen wird, will sich niemand die Blöße geben, als Verlierer dazustehen. In: Süddeutsche Zeitung 26./27. November 2016, R1
Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009
Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. Beck-Verlag, München 2013
Text und Bild: Detlev Sträter

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