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Frei & Liebe (10): Die Zeit, chaotisch

Sharon Brehm

“If you wish to be a warrior prepare to get broken, if you wish to be an explorer prepare to get lost and if you wish to be a lover prepare to be both.” – Daniel Saint

 

Mannigfaltig sind die Arten wie du liebst. Und doch ähneln sich deine Gefühle, Handlungen, Rituale, die du mit und für deine Herzensmenschen auserkoren hast. Manche Dinge sind unweigerlich, unbemerkt immer Teil davon, wenn du dein Herz öffnest: Alltägliches wird zauberhaft, Zeit steht still, du bist unabwendbar und für immer verändert durch die Präsenz einer anderen Person.

Doch genauso gehört bitterer, tragischer Verlust zum Lieben.

Sehr selten verstehst du, verstehen wir, was es für ein Luxus ist, noch 1000 Mal die Dinge ins Reine rücken zu können. Zum 4255. Mal ein klärendes Gespräch zu suchen, sich 128 Mal zu trennen und wieder zu vertragen. Wir sollten uns öfters an dieses Privileg erinnern, das sich oft anstrengend und unnötig anfühlt. Denn manchmal haben wir ihn nicht, diesen Luxus, dass Dinge nicht endgültig sind. Dass wir so tun könnten, als hätten wir bis in alle Ewigkeit Zeit.

 

Bei aller Zauberhaftigkeit des Lebens – du kannst die Zeit nicht zurückdrehen.

Und so lebst du in deinem ewig gleichen Zyklus aus Nähe und Distanz bis zu diesem Moment, in dem du deinen eigenen Pulsschlag so laut und vehement in deiner Hand spürst, dass du Angst bekommst. Denn du willst ihn doch nicht spüren, weil jedes Pochen bedeutet, dass die Zeit weiterläuft, rennt. Dich von dem Moment fort trägt, an dem du vielleicht hättest etwas ändern können. Natürlich ist das utopisch. Dass du die Zeit zurückdrehen könntest. Dass du hättest etwas ändern können.

Es gibt so viel, das du nicht verstehst, das nicht in deine Realität passt. Denn du, ich, wir. Wir lieben unser Leben wegen der Menschen, die es mit uns teilen. Also müssten diese Menschen ihr Leben, das sie mit dir teilen, doch genauso lieben. Dich genauso lieben. Das wäre doch nur logisch. Aber Verlust ist eben nicht logisch und Zeit ist ein Signum lebendiger Absurdität. Denn auch wenn wir Uhren tragen, uns unsere Smartphones mit Ziffern und Koordinaten durchs Leben manövrieren, so wissen wir doch alle, dass Augenblicke ewig sein, Stunden sich wie Sekunden anfühlen können. Nur Geschichten zurückdrehen, bei aller Zauberhafitgkeit des Lebens, funktioniert trotzdem nicht. Die Zeit ist ein Egoist.

 

Zu viel Realität, zu wenig Ewigkeit.

Du, bis unter deinen Haaransatz gefüllt mit emotionalem Chaos – Wut, Trauer, Sehnsucht, Wahnsinn, wieder Wut, unsagbarerer Traurigkeit – verstehst die Welt nicht mehr und die Zeit erst recht. Da ist manchmal zu viel Realität, einfach zu viel davon. Und zu wenig Ewigkeit.

Dein Körper ist wie schockgefroren und wieso hören diese Augen nicht auf, Flüssigkeit zu produzieren? Dein Innerstes dreht sich, schlägt wild um sich, versteht es nicht. Gleicht Tage ab, weckt Erinnerungen, lässt die Person real sein. Doch eben nur in deinem Kopf. Die Zeit ist längst weitergelaufen, während deine wirren Gedanken zu Karussellen werden, dein Herzensmensch fröhlich-egoistisch im Kreis fährt, die Zentrifugalkraft dich an den Rand des Wahnsinns presst. Die Zeit schuldet dir unzählige Abenteuer, Gespräche bis in den Sonnenaufgang, Streitigkeiten wegen Lappalien. Ihr hättet ein Recht auf ewige Disco, zeitloses Glitzern gehabt. All das, das Gute, das Triviale und das Schlechte, wären euch zugestanden.

Auch wenn Freunde dich umgeben, einzig sie die Absurdität des Geschehenen erträglich machen, ist dir so schwer ums Herz. Was würdest du für eine zweite Chance, ein wenig mehr Zeit geben. Auch wenn wir lernen, mehr auf Bauchgefühle zu hören, öfters über den eigenen Schatten zu springen, Menschen öfters wissen zu lassen, dass sie uns wichtig sind, kam diese Einsicht zu spät, war sie zu teuer.

Es gibt Dinge, die sind einfach scheiße.

 

Liebe bedeutet großes Chaos.

Es wird dauern, bis du deinen Platz in einer Geschichte gefunden hast, die eine andere Person geschrieben hat. Denn auch wenn Tinte bis in die Unendlichkeit trocknet, Namen zu schwarzen Flecken auf Papier werden – am Ende war es die Feder einer anderen Person.

Es wird dauern, bis du nicht mehr hoffst, die Person wäre nur im Urlaub oder vielleicht durchgebrannt. Abgehauen um jetzt auf einem Bauernhof von den glücklichsten Kühen die glücklichste Milch auf dem ganzen Planeten zu melken. Oder einfach durch ein Hasenloch ins Wunderland gefallen.

Es wird dauern, bis Dankbarkeit die Trauer, die Wut, den Zorn, das Flehen in deinem Kopf verdrängt. Dankbarkeit für all die schönen Momente, die verrückten Gedanken, die Leichtigkeit und Schwere dieser zauberhaften, menschlichen Berührung. Und vielleicht wird es auch nie passieren, dass du diese skurrile Abfolge an Handlungen verstehst. Aber ich wünsche es dir. Ich wünsche es uns. Denn Verlust gehört zum Leben und ganz speziell zum Lieben. Eigentlich weißt du selbst, dass Liebe großes Chaos bedeutet.

Und vielleicht ist auch das Liebe: freilassen, gehen lassen und trotzdem die Person in seinem Herzen behalten. Denn da gehört sie hin.

 

Eine monatliche Liebeskolumne.


Beitragsbild: Mit freundlicher Erlaubnis von Gessica Hage. Danke!

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