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Frei & Liebe (11): Das Herz, verrufen

Sharon Brehm

Herz über Kopf. Wenn ich mit diesen drei Worten meinen Zustand bezeichne, dann habe ich meistens ein Problem mit der Wahrheit. Die Realität ist manchmal die falsche Eissorte an einem Regentag. Es könnte so schön sein, wäre da nicht so viel verkehrt. Unverschämt, dass das Jetzt so anders ist als meine Vorstellung.

Herz über Kopf. Diese drei Worte scheinen wie keine anderen in unserer Sprache innere Zerrissenheit zu symbolisieren. 12 Buchstaben, mit denen wir an der Klippe stehen– nicht bereit zum Sprung und doch stehen wir ganz schön oft an der Grenze zwischen ungreifbarer Intuition und felsenfesten Argumenten. Zu wenig zum Bleiben, zu viel zum Gehen.

Doch wenn ich ehrlich bin, ist dieser Satz eher eine schöne Ausrede. Mehr eine gesellschaftliche akzeptierte Art, Zögern zu rechtfertigen. Und Nichts ist falsch am Zögern, am Warten, am Bleiben. Was mich stört, ist der Dualismus von Gefühl und Verstand. Denn es sind nicht tiefe Liebe oder echte Emotionen, die dem Kopf etwas Anderes diktieren. Die Wahrheit ist: wir sind in diesen Herz-über-Kopf-Momenten einfach noch nicht bereit, unsere Wünsche los zulassen.

Ein Plädoyer für mehr Gefühl

Herz über Kopf bedeutet einerseits individuelle Zerrissenheit. Andererseits – und das ist das Problem – bringen wir damit diese als weiblich konnotierten Qualitäten in Verruf: Empathie, Gefühl und ungreifbares Bauchgefühl. Indem wir unserem metaphorischen Herzen die Schuld für unseren Zwiespalt geben, verlernen wir zu leben, werden im Endeffekt zu Menschen, die Frauen hysterisch schimpfen und die Männern Tränen verbieten. Denn nach genügend konstruktivistischer Lektüre und Lebenserfahrung nehme ich mir auch als Frau heraus zu behaupten, Männer sind nicht nur herzlose Rechenmaschinen und Frauen sensible Rosamunde-Pilcher-Verschnitte.

Seit dem Wandel vom Ein-Geschlechter-Modell zum Zwei-Geschlechter-Modell Ende des 17. Jahrhunderts verfolgt uns diese Zweiteilung. Rationale Argumente wiegen mehr als emotionale, objektiv ist besser als subjektiv, Naturwissenschaftler verdienen mehr als Geisteswissenschaftlerinnen. Der Kopf wird zum Sitz unserer Rationalität, zu unserer Bibliothek, unserem Wissensvorrat und das Herz zum Wechselbad unserer Gefühle. In Situationen, in denen wir die Wahrheit nicht akzeptieren können, neigen wir dazu, Gefühl und Verstand gegeneinander auszuspielen. Doch warum sollte das Herz nicht für das schlagen können, was der Kopf sich ausmalt? Warum versuchen wir unser Leben, unsere Liebe, selbst unser Leiden nicht so zu gestalten, dass wir es mit allen Sinnen, Gedanken, Gefühlen  genießen können? Ich wünsche mir Herz und Kopf statt Herz über Kopf, Gleichklang statt Balance.

Das Gefühl im Cortex

Weil Intuition so verrufen ist, verlernen wir ganz schnell uns auf sie zu verlassen. Doch im Endeffekt basiert jede einzelne Gefühlsregung auf unseren Erfahrungen – sie reißt zu Recht alte Wunden auf und erinnert uns an Glücksmomente, in der Hoffnung ähnliches Glück zu empfinden. Und dank ständig präsenter Bildschirme haben wir auch Gefühle zu Dingen, die wir noch nie erlebt haben.

Die Retrospektive hat meistens irgendeinen Filter. Melancholisch-entsättigtes Gingham. Intensives Clarendon. Schwarz-weiße Nostalgie. Ich lege den Ich-hab-es-doch-geahnt-Filter über Throwbacks und Erinnerungen und verabschiede mich schrittweise von der Illusion eines Herz-über-Kopfs. Willkommen sei das ungute Gefühl im Cortex, das Handeln nach bestem Wissen und Gewissen.

Abstraktion und Realität

Bei den meisten Menschen stimmte mein erster Eindruck. Doch war es, weil sich wulstige Hände und eine vulgäre Sprache zu einem ebenso groben Menschen summierten, feingliedrige Pianistenhände  ein zartes Gemüt  bedeuteten? Das wäre zu essentialistisch. Oder war es etwas viel Flüchtigeres, Subtileres – Dinge, die weder greifbar, schmeckbar, sichtbar, spürbar sind und sich trotzdem zu Recht über meine Einschätzung legen? Es dauert manchmal eben bis Abstraktes an Form gewinnt. Aber ist es deswegen weniger real?

Ich erinnere mich an Personen, die mir menschlich, körperlich, emotional näher kamen. Immer hatte ich sie vom ersten Augenblick an auserkoren. Wer weiß, ob man direkt von Liebe oder Freundschaft auf den ersten Blick reden kann. Aber wie kann man von Anziehung und Sympathie, innerer Verbundenheit und körperlicher Dynamik wissen, lange bevor der erste Test erfolgreich gelaufen ist, bevor Berührung spürbare Gänsehaut hervorruft?

Das Herz lag richtig. Quod erat demonstrandum

Es gab einen Mann, von dem alle anderen überzeugt waren, dass er in mich verliebt war. Alles sprach dafür und er war es auch. Doch ich wusste von der ersten Sekunde an,  dass er auch Angst haben würde, dass er noch nicht bereit ist. Es hat einige Zeit, Treffen, Wunden, Küsse gedauert bis er und ich es einsahen. Hätte ich meinem Gefühl getraut, vielleicht hätte ich uns beiden all das erspart.

Die Tage zwischen Seitensprung und Geständnis waren gefüllt mit der Vorahnung, dass meine Welt aus den Fugen geraten war. Ungreifbar war die Schwere, während sich doch nichts verändert hatte. Mein Verstand suchte vergebens nach einem Indikator, der mein Gefühl bestätigen könnte. Quod erat demonstrandum. Ein Teil von mir hätte den Fall lieber als ungelöst abgestempelt. Jener, der gerne eine Menschenkenntnis wie Sherlock Holmes hätte, triumphiert. Er hatte es schon lange gewusst.

Ich erinnere mich an eine Trennung, in der ich lange gehadert habe, obwohl ich das Ende bereits beim Wendepunkt erahnte. Bravourös war schließlich meine Rolle als masochistisches Häufchen Elend, das zwischen Verdrängung und Selbstzweifeln brillierte. Mehr als sechs Monate konnte ich nicht gehen, obwohl mein Kopf es wusste. Doch es war nicht, dass mein Herz etwas anderes wollte. Mein Herz war zu sehr mit Leiden und Heilen beschäftigt. Es war meine Wunschvorstellung von einer glücklichen Zukunft und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. In diesem Fall siechte sie sehr, sehr langsam dahin.

Subjektiv das Richtige tun

Und diese Momente bedürfen keines Mitleids. Ich bin eine selbstbestimmt emotionale Verehrerin banal-tragischer Komödien. Habe sie auch alle irgendwie, wahrscheinlich genossen oder zumindest gebraucht. Gefühlvoll zu sein bedeutet nicht automatisch, dass man auf seine Gefühle hört. Doch ein klarer Kopf und ein pochendes Herz sind wohl die wichtigsten Berater, die man haben kann. Denn am Ende kann niemand, der nicht in meiner Haut steckt wissen, was das Richtige(re) für mich ist, ganz persönlich und subjektiv. Hört man beiden genau zu, kann man Angst von Wirklichkeit, Utopie von Realität, Instinkte von Stereotypen, Liebe von Verliebt-sein, Hunger von Appetit, Pausen vom Ende unterscheiden. Ja, zu wissen UND zu fühlen was gut ist, ist eine Stärke, die ich für mich noch lernen möchte, lernen muss. Herz und Kopf.

 

Eine monatliche Liebeskolumne.


Beitragsbild: Mike Monaghan via CC2.0

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