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München und der Mythos vom sicheren Afghanistan – eine Stadt im Kampf gegen Abschiebungen

Julius Zimmer

Es ist besonders heiß an diesem Tag. Nahe dem Dorf Kasaban in dem Bezirk Char Darah spielen eine Handvoll Kinder zusammen auf einem Feld. Auch wenn dieser Teil der Provinz Kundus von der islamistischen Miliz der Taliban beherrscht wird – es erscheint auf den ersten Blick ruhig.

Doch mit einem Schlag ist es mit der Ruhe vorbei. Ein ohrenbetäubender Knall schallt plötzlich durch das Dorf. Auf dem Feld ist etwas explodiert, etwas Großes.

Am Ende sind vier Kinder tot und sieben verletzt. Das berichtete die Deutsche Presse-Agentur am 11. April mit Bezug auf den Polizeisprecher des Bezirks, Mafusullah Akbari. Die Kinder hatten mit herumliegender Munition eines Mörsergeschosses gespielt, als diese plötzlich explodierte.

Was explodierte, hat Zehntausende getötet

Mörser sind sogenannte Steilfeuergeschütze mit einem kurzen Rohr. Man nennt sie in Deutschland auch Granaten- oder Minenwerfer, je nach Ladung und Größe. Soldaten sind damit in der Lage, tödliche Geschosse wie Splitter- und Sprenggranaten aus der Entfernung abzufeuern.

Doch nicht immer explodiert die Munition. Nach langen und intensiven Kämpfen in Kriegsgebieten bleiben daher häufig noch geladene Geschosse am Ort des Geschehens zurück – und kosten Zivilisten das Leben.

Afghanistan gilt als eines der am schwersten mit nicht-explodierter Munition verseuchten Länder der Welt.

715.000 sogenannter “Anti-Personen-Minen” haben Minenräumer seit 1989 bisher zerstört. Dazu kamen 30.000 Panzer-Minen und fast zwei Millionen sogenannte nicht detonierte Kampfmittel: Handgranaten, Raketen und Mörser.

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Minensucher der slowakischen Armee bei der Arbeit. Credit: Resolute Support Media 

Allein seit dem Jahr 2009 gehen 9500 Tode auf das Konto von Tretminen, Sprengkörper und Munitionsrückständen. 2016 waren 183 der Opfer Kinder. Das geht aus dem Jahresreport der UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) von 2016 hervor. Noch größer ist die Zahl derer, die durch die Explosionen verletzt wurden – auf dem Weg in die Schule oder beim gemeinsamen Spielen im Freien.

In vielen Regionen des Landes sind die Krankenhäuser restlos überfüllt mit Kindern, die dabei Arme und Beine verloren und nun für den Rest ihres Lebens auf Prothesen angewiesen sind. Das ist die Realität. Nicht überall in Afghanistan, aber in fast allen Provinzen – von Helmand bis Kundus, von Faráh bis Laghmán.

Szenenwechsel: München, Bayern, April 2017

Mit einem Stadtratsbeschluss stellt sich der Münchner Stadtrat offen gegen die Politik der Bundes- und Landesregierung:

“Der Münchner Stadtrat spricht sich gegen Abschiebungen nach Afghanistan aus.”

Und weiter heißt es in dem Beschluss: “Auf allen Ebenen setzt sich die Landeshauptstadt München dafür ein, dass alle Geflüchtete Zugang zu Integrationsleistungen, zu Sprachkursen, Ausbildung und Arbeit auch während des laufenden Asylverfahrens erhalten”. Der Beschluss fiel mit einer Mehrheit jenseits der CSU. Die mediale Aufmerksamkeit war groß. Noch keine deutsche Großstadt hatte sich mit einem amtlichen Beschluss gegen die Flüchtlings-Politik der Bundesregierung gestellt.

Das Problem: Rein rechtlich gesehen bringt dieser Entschluss nichts. Die Ausführende Staatsgewalt bleibt der deutsche Staat und der Freistaat Bayern. “Die Entscheidung des Münchner Stadtrats ist trotzdem ein starkes Signal”, sagte SPD-Bundestagskandidat Sebastian Roloff im Gespräch mit MUCBOOK. 

“Wenn die drittgrößte Stadt Deutschlands sich öffentlich gegen die absurde Rückführungspolitik der Großen Koalition stellt, dann ist das eine deutliche Aufforderung in Richtung Berlin. Die Botschaft lautet: “Kümmert euch um die Rechtslage!”

Die Gefährdung von Leib und Leben: nicht nur in Afghanistan

Denn Fakt ist: Abschiebungen in Krisenländer wie Afghanistan bedeuten eine Gefährdung von Leib und Leben der Betroffenen – und sind damit Verstöße gegen die Menschenrechte und das deutsche Grundgesetz. Erst am Montag warnte die Bayrische Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte in einer Pressemitteilung vor schweren psychischen Schäden, die eine Abschiebung mit sich bringen kann.

In Stephanskirchen im Landkreis Rosenheim mussten vier syrische Kinder im Alter von ein bis sieben Jahren auf Grund massiver Angstzustände, Schlaflosigkeit und Verhaltensstörungen behandelt werden. Vorausgegangen war ein unangekündigter Abschiebungsversuch nach Ungarn, der auf Grund des Gesundheitszustandes der schwangeren Mutter abgebrochen wurde.

In einem anderen Fall sollte die Familie eines zweijährigen Mädchens aus der Aufnahme- und Rückführungseinrichtung in Manching abgeschoben werden. Die Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, da sie befürchtete in ihrer Heimat Albanien Opfer von Blutrache zu werden.

Als ihr Mann und ihr 14-jähriger Sohn ihr helfen wollten, wurden ihnen Hand- und Fußfesseln angelegt. Die Frau musste vier Wochen lang in einer geschlossenen Psychatrie behandelt werden. Die Tochter reagierte auf den Vorfall mit Nahrungsverweigerung und selbstverletzendem Verhalten.

Polizeibeamte am Münchner Hauptbahnhof im September 2015. Credit: Andreas Schalk

Polizeibeamte am Münchner Hauptbahnhof im September 2015. Credit: Andreas Schalk

Abschiebung trotz Attest: Ärzte reichen Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Behörde ein

Nur wenige Wochen später veranlasste die zentrale Ausländerbehörde Oberbayern erneut die Abschiebung der Familie – dieses Mal ohne die Mutter. Dass der Vater ein ärztliches Attest vorlegte, ignorierten die zuständigen Polizisten. Erst ein Flughafenarzt stoppte den Prozess am Frankfurter Flughafen. Die Bayrische Ärzteinitiative reichte darauf gegen die Zentrale Ausländerbehörde eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein.

Der Vorwurf: Verstoß gegen gegen Art. 2 und Art. 6 Grundgesetz (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Schutz der Familie), Art. 3 Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung) sowie Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention (Berücksichtigung des Kindeswohles bei allen staatlichen Maßnahmen).

Die Flüchtlingspolitik ist skurril

SPD-Politiker Sebastian Roloff sieht in der aktuellen Flüchtlingspolitik keine richtige Logik: “Erst nehmen wir Millionen Flüchtlinge auf und behaupten, sie dürften alle bleiben und dann versuchen wir, kleine Gruppen mit fragwürdigen Methoden wieder zurückzuschicken. Das ist doch skurril”.

Trotzdem haben die Behörden seit Ende Dezember vier Rückführungsflüge durchgeführt. Dabei wurden 92 Afghanen aus Deutschland zurück in ihre Heimat gebracht. Begleitet wurden sie dabei von insgesamt 298 Polizeibeamten – Kostenpunkt: 1,3 Millionen Euro. Das ergab eine Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Die Bundesregierung teilt Afghanistan zwar in “sichere” und “unsichere” Zonen ein, doch dass das nur auf dem Papier haltbar ist, zeigt ein Blick in die Zeitungen der vergangenen Woche.

Eine Woche, drei Provinzen, drei Anschläge

Nach Einschätzungen der Regierung sind beispielsweise die Provinzen Herat, Balag und Kabul “konstant ausreichend sicher”.

So sicher, dass erst an diesem Donnerstag die Nachrichtenagentur Pars Today von einer Bombenexplosion in der Provinz Herat berichtete, bei der sieben Menschen ums Leben kamen. Zwei der Opfer waren Kinder und drei Frauen.

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Karte von Afghanistan mit allen Provinzen. Credit: mapcruzin.com

Zwei Tage zuvor explodierte ein Sprengkörper in einer Religionsschule in der westlichen Provinz Parwan. Die Bombe habe sich nach örtlichen Polizeiangaben unter der Sitzfläche eines Predigers befunden. Acht Menschen starben.

In einer weiteren “sicheren” Provinz, der Hauptstadt Kabul, ereignete sich vor einer Woche ähnliches. Die Explosion sollte einen Militärkonvoi treffen – doch die Opfer waren vor allem Zivilisten. Acht Afghanen seien getötet und 25 verletzt worden, berichtet das ZDF-Magazin “heute”.

Die Sicherheitslage ist 2017 gefährdet wie lange nicht mehr

Das Land ist sogar so extrem sicher, dass inzwischen tausende afghanischen Ortskräfte in Deutschland Asyl beantragen. Es handelt sich dabei um Einsatzkräfte, die in ihrer Heimat von deutschen Nato-Soldaten ausgebildet wurden und eigentlich vor Ort für Sicherheit und Entwicklungshilfe sorgen sollen.

Ihre einzige Hoffnung ist die “Fürsorgepflicht” der Bundesregierung. Mit einer Gefährdungsanzeige können die Hilfskräfte einen Asyl-Antrag stellen. Nach Informationen der “Welt” sind bis zum 23. März 2017 1984 dieser Anzeigen im Bundesinnenministerium eingegangen.

Denn nach dem Abzug der deutschen Truppen 2014 verschlimmerte sich die Sicherheitslage so massiv, dass viele der Bundeswehr-Helfer nun Angst vor Racheaktionen der wieder stärker werdenden Taliban haben.

US-Soldaten an einem Autowrack in der Stadt Kabul. Am 17. Januar explodierte eine Autobombe nahe der deutschen Botschaft und tötete Zivilisten sowie internationale Streitkräfte. Credit: Resolute Support Media

US-Soldaten an einem Autowrack in der Stadt Kabul. Am 17. Januar explodierte eine Autobombe nahe der deutschen Botschaft und tötete Zivilisten sowie internationale Streitkräfte. Credit: Resolute Support Media

Diese riefen im April ihre jährliche “Frühjahrsoffensive” aus – die “Operation Mansuri”. Ausländische Truppen würden durch “konventionelle Angriffe, Guerillakampf, Märtyrer- und Insiderattacken” angegriffen. Das drohten die Islamisten in einem Erklärungsschreiben, welches dem “Stern” vorliegt. Dass von diesen Angriffen ebenfalls hunderte Zivilisten betroffen sind, scheint die Bundesregierung bei ihren Sammelrückführungen in Kauf zu nehmen. 

Das gleiche gilt für die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz. Andere Landesregierungen haben sich ähnlich wie die Stadt München entscheidend gegen die Rückführungen ausgesprochen.

Neubewertung der Sicherheitslage: CSU sieht “keinerlei Anlass”

Nur schade, dass München in Bayern liegt. Hier spricht sich die Landesregierung, geführt von der CSU, lautstark für weitere Abschiebungen in ein Land ab, aus dem die Sicherheitskräfte fliehen, Bombenanschläge Alltag sind und immer noch hunderttausende Tretminen, Sprengkörper und Munitionsrückstände das Leben von Zivilisten bedrohen – auch in den “sicheren” Regionen.

Für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann gibt es dennoch “keinerlei Anlass, die Rückführungen in Frage zu stellen”. Denn: “Die Bewertung der aktuellen Sicherheitslage durch die Bundesregierung ist nach wie vor unverändert”. Das berichtete die “Welt”. 

Immerhin zeigen neben der Stadt auch die jungen Bewohner Münchens, dass ihnen das Thema nicht egal ist. Am 27. April demonstrierten hunderte Schüler und Schülerinnen zusammen gegen bayrische Abschiebungen, Ausbildungs- und Arbeitsverbote.

Denn was eindeutig sinnvoller ist als Menschen in Krisengebiete abzuschieben, ist ihnen einen Ausbildungsplatz, eine Arbeit und damit eine sichere Zukunft zu bieten.


Bilder: Resolute Support Media, Andreas Schalk, Junges Bündnis für Geflüchtete (CC 2.0)

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