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Zehn Tage im Meditations-Bootcamp

Ina Hemmelmann

 

Meditation und Bootcamp – klingt nicht wirklich kompatibel, oder? Aber die Regeln, denen ich mich bei meinem ersten Vipassana-Meditations-Seminar aus gänzlich freien Stücken unterworfen habe, lassen einen zunächst eher an militärischen Drill denn an Entspannung denken: Aufstehen morgens um 4 Uhr, feste Essenszeiten und keine Snacks zwischendurch, abends um 17 Uhr nur noch Obst und Tee (und für die Fortgeschrittenen noch nicht einmal mehr Obst), Handy, Autoschlüssel, Bücher, Schreibzeug, Musicplayer – all das gibt man beim Beginn des Seminars ab und erhält es erst am Ende des Kurses wieder. (Erstaunlicherweise war das Verlangen nach dem Handy weg, sobald auch das Gerät abgegeben war. Kein Vermissen, keine zittrigen Finger, kein eingebildeter Vibrationsalaram…) Und man schweigt. Zehn Tage keinerlei Kommunikation mit den anderen Teilnehmenden, kein Flüstern, kein Morgengruß, kein „Guten Appetit!“, noch nicht einmal Blickkontakt ist erlaubt. Immerhin geht’s kurz nach 21 Uhr dann schon ins Bett. Die Tagesbeschäftigung schließlich besteht aus rund zehn Stunden Meditation, am besten sitzend. Dazwischen gibt es hin und wieder eine Pause, ja, aber eben auch keinerlei Ablenkung, was man statt zu meditieren tun könnte. Also tut man das eben. (Eine gute Möglichkeit, dieses Abstraktum „Ergebenheit“ ganz real zu erfahren…) Und ab dem fünften Tag gilt zu allem Überfluss noch die Regel, sich bei drei der zehn Meditationsstunden nicht mehr zu bewegen, sondern die einmal eingenommene Sitzposition beizubehalten.

Schweigen im Akkord

Ich bin völlig blank und ohne Vorerfahrung in diesen zehntägigen Schweige-Marathon gegangen, habe nie meditiert – manchmal ein wenig Atembeobachtung, aber länger als fünf Minuten hielt ich das nie durch und versuchte krampfhaft meine Gedanken aus dem Kopf zu schieben. Denkenderweise. Entspannend war das nicht. Nun also mit einem Vipassana-Kurs der Sprung ins kalte Wasser: 100 Stunden Meditation in zehn Tagen. Ich wusste nicht so recht, worauf ich mich da eigentlich einlasse – ich wusste nur: Zehn Tage ohne piependes Handy, ohne E-Mails, ohne Anrufe, ohne Menschen, die etwas von mir wollen – eine großartige Aussicht! Und was sind schon zehn Tage? Wenn es mir gar nicht taugt, dann sind die auch schnell vorbei. Trotzdem war da natürlich eine kleine Angst vor all diesen schlimm strengen Regeln: So früh aufstehen, wo ich sonst Minimum sieben bis acht Stunden zu schlafen versuche und selbst danach noch mit dem Wecker aus dem Schlaf gerissen werde und kaum hochkomme. Kein richtiges Essen nach 12 Uhr mittags, wo ein großes Abendessen doch sonst meine Lieblingsmahlzeit ist – und dann nur Obst, das mich eher hungrig macht statt satt… Wie nur überlebt man eine Woche ohne Smartphone in diesen Zeiten, ohne Nachrichten, ohne Text? Und erst ohne zu sprechen, ohne Blickkontakt, ohne jegliche soziale Interaktion?

Auch meine Vorstellung von Meditation war – wie ich lernen musste – etwas realitätsfern. Ich dachte, Meditation macht einen freundlich und harmonisch und man wird im Kopf ganz fluffig-weich, aber schon nach einem Tag musste ich lernen: Meditation macht vor allem SEHR SEHR wach, konzentriert und ruhig. Ich lag ab der ersten Nacht hellwach im Bett und konnte nicht einschlafen. (Woraufhin mir die Lehrerin des Kurses riet, dann einfach weiter zu meditieren. Na, danke auch. Aber was soll ich sagen: Klappt bestens und Einschlafprobleme kenne ich seither quasi nicht mehr.) Dazu wird man noch sehr, sehr empfindsam, körperlich und psychisch, und wechselt bei allem, was man tut, in einen Slow-Motion-Modus, was sehr angenehm ist. Raus aus der Beschleunigung und dem Alltagsgerenne! Und ich habe gelernt: Denken ist Teil der Sache. Wir können nicht nicht denken, der Geist wandert und springt ständig. Aber wir können ihn auf einen Punkt lenken und versuchen dort zu halten. Wieder und wieder. Das ist im Grunde das, was man die ganzen zehn Tage während des Kurses macht. Immer wieder den Geist einfangen. Die Ausbrüche werden seltener und weniger weit, aber sie finden immer statt, auch am letzten Tag noch.

Nix passiert, oder: No itching is eternal

Was passiert da also bei so einem Seminar? Von außen betrachtet: Nicht viel. Die Teilnehmenden (Rund 100 Menschen waren das in meinem Fall, gleich viele Männer und Frauen und sowohl Neulinge als auch erfahrene Meditierende gemischt.) versammeln sich zu den Meditationssitzungen gemeinsam in einer Halle, manchmal ist auch das Meditieren auf dem eigenen Zimmer erlaubt. Links sitzen die Männer auf dem Boden ordentlich aufgereiht, rechts die Frauen. Strenge Geschlechtertrennung herrscht während des gesamten Kurses. Jegliche Ablenkung soll vermieden werden… Über Tonband werden dann die Anleitungen zur Meditation abgespielt, zunächst in indischem Englisch, eingesprochen von S.N. Goenka, der die Vipassana-Tradition von Myanmar aus wieder nach Indien brachte und zu ihrer weltweiten Verbreitung verhalf. Danach in deutscher Übersetzung. An manchen Tagen meditieren die anwesenden LehrerInnen auch mit kleinen Gruppen der Teilnehmenden gemeinsam. In der Mittagspause besteht auch die Möglichkeit, die LehrerInnen zu persönlichen Interviews zu treffen, wenn man Fragen zur Meditationstechnik hat – und nur dazu. Ja, zu diesem Zeitpunkt darf man sprechen, aber ist angehalten, sich kurz und ans Thema zu halten.

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Die ersten drei Tage lernt man, den Atem zu beobachten. Das kennen die meisten wohl schon als Meditation oder haben bereits erste Erfahrungen damit. Das beobachtete Gebiet wird von Tag zu Tag verkleinert – zunächst spürt man im Bereich der ganzen Nase bis zur Oberlippe, wo die Luft entlang streicht, am dritten Tag nur noch über der Oberlippe. Diese drei Tage sind der anstrengendste Teil des Kurses. Der gesamte Körper schmerzt, man weiß nicht mehr, wie man sich noch sinnvoll hinsetzen soll, alles scheint verspannt und verschoben. Ab dem vierten Tag wird dann die eigentliche Vipassana-Technik gelehrt – eine gewisse Form der Körperbeobachtung mit dem Ziel, sämtliche körperlichen Empfindungen, egal ob angenehm oder unangenehm, objektiv zu betrachten, nicht mit Begehren oder Abneigung zu reagieren und Gleichmut zu bewahren. Auf diese Weise kann unser Unterbewusstsein, das auf permanentes Reagieren dieser Reize und Empfindungen gepolt ist, umprogrammiert werden. (Bösen Zungen, die behaupten, Meditation sei purer Narzissmus und eine Abkehr von der Realität, wünscht man so einen Kurs und die damit einhergehenden Erfahrungen…) Man nimmt also in Kauf, dass einem der Rücken schier zerbricht oder das Bein einschläft – und wird damit belohnt, dass diese Schmerzen und Unannehmlichkeiten sich verändern, vielleicht aufhören, der Körper „loslässt“, und sich auch im Kopf einiges bewegt. Man versteht plötzlich: Alles, was glücklich und zufrieden macht, liegt in mir. Nicht in dem, womit ich mich umgebe. Die strengen Regeln des Kurses sind nicht gegen mich, sie sind für mich – damit ich ernsthaft meditieren kann. Ich bin umsorgt, ich habe Essen, ein Dach über dem Kopf, es geht mir gut. (Ja, natürlich ist es erlaubt, die Kursbetreuer bei gewissen Unannehmlichkeiten dezent anzusprechen.)
Zwischendurch dachte ich sogar – ein paar Tage mehr hier wären auch nicht tragisch, im Gegenteil. Ich bin versorgt, ich habe eine Aufgabe. Läuft. Natürlich gibt es Hochs und Tiefs bei so einer intensiven Erfahrung – doch die gehen vorbei. Und genau darum geht es. Das Beobachten körperlicher Empfindungen lehrt einen: Alles ist Veränderung. Gutes wie schlechtes, angenehmes wie unangenehmes verändert sich, geht vorbei – statt dagegen anzukämpfen oder sich festzuklammern, entwickelt sich durch objektives Beobachten ohne zu reagieren Gleichmut. Man lernt zu akzeptieren, was ist, wie es ist, und aktiv zu handeln, wo man selbst Änderungen bewirken kann.

Entspannung statt Urlaub

Das für mich schöne an der Vipassana-Meditation ist die körperliche Dimension. Ich hätte nie erwartet, dass Meditieren eine so körperliche Angelegenheit sein kann – obwohl man nur bewegungslos sitzt. Mit Esoterik und übertriebener Spiritualität kann man mich jagen – das findet bei Vipassana glücklicherweise keinen Platz. Überhaupt kommt die ganze Sache schlicht und unprätentiös daher – keine Logos, Embleme, Sinnsprüche, Mantren, die Meditationszentren schlicht und schmucklos (An meinem Kursort, der nur ein „improvisiertes“ Zentrum ist und eigentlich eine Jugendherberge, wurde an vielen Stellen mit Tüchern verhängt, was das Auge und damit den Geist ablenken könnte. Das wirkt erstmal seltsam, ist aber sehr hilfreich.). Wer fancy Detox-Mindfulness-Angebote sucht, ist hier falsch. Wer sich jedoch selbst neu kennenlernen uns sich besser, erholter und geerdeter fühlen möchte als nach einem vierwöchigen Ayurveda-Urlaub, der passt schon besser in so einen Zehn-Tages-Kurs. Richtig Urlaub kann man das nicht nennen. Und ja, auch sitzen und meditieren kann sehr anstrengend sein, aber hinterher geht es einem ganz unbeschreiblich gut. Man wird freundlich, ausgeglichen, ruhig, kann Stress besser begegnen, braucht weniger Schlaf und entwickelt ein besseres Körpergefühl und vor allem: tiefe Dankbarkeit, diese Technik und ihre Wirkung erlebt zu haben, aber auch den Menschen gegenüber, die die Erfahrung durch ihren ehrenamtlichen Einsatz ermöglicht haben.
Ich habe mittlerweile meinen zweiten 10-Tages-Kurs gesessen und sicher ist: Weitere werden folgen. Es ist ja auch ein kleiner Akt der Rebellion in unserer Zeit, sich so eingehend mit sich selbst auseinanderzusetzen in einem Alltag, der das nicht vorsieht, in dem man funktionieren soll und den Rest der Zeit mit irrelevanten Informationen zugeschossen wird. (Mehr Meditation und weniger Werbung und die Welt wäre um einiges besser!)

Fun Facts: Meditation

  •  Man träumt ganz wild in dieser Kurswoche! Meine Theorie ist, dass der Geist durch die Meditation schon Erholung bekommt und nichts neues verarbeiten muss, so dass gar kein Tiefschlaf nötig ist. Also schläft man sehr leicht, sehr wenig und träumt ganz irres Zeug, spricht im Schlaf oder wacht vor lachen auf…
  •  Yoga (und andere Leibesübungen) sind während des Kurses nicht erlaubt, aber hey: Ich konnte mich nach diesen zehn Kurstagen in Asanas falten und biegen, die vorher nicht möglich waren – da passiert also einiges in Körper und Geist, auch wenn man sich nicht regt und streckt.
  • Mitnehmen an persönlichen Gegenständen braucht man quasi nichts ausser Kleidung und Hygieneartikel. Alles andere muss man abgeben: Handy, Stifte, Bücher, Schreibzeug, Music-Player… Hilfreich hingegen sind ein (digitaler! Nicht tickender!) Wecker, Wärmflasche und Decken – morgens um 4 Uhr kann es ganz schön frisch sein… Und sich vorab schon ein wenig mit Sitzhaltungen auseinanderzusetzen (ha!), schadet keinesfalls.
  • Pssst, nicht verraten: Es sind eigentlich nur neun Tage Meditation und edle Stille – der zehnte Tag ist Metta-Tag, hier darf wieder gesprochen und gelacht werden, es gibt „nur“ fünf Stunden Meditation und sogar ein Abendessen!
  • Ums Essen muss man sich gar keine Sorgen machen: Es ist reichlich vorhanden und meist eine Auswahl verschiedener Dinge. Die Küche ist immer vegetarisch, meist sogar vegan, auf Nachfrage wird auf gewisse Allergien Rücksicht genommen (aber glutenfrei ist sowieso das meiste). Den ganzen Tag ist Tee und Kakao zum Abfüllen vorhanden. Alles in allem also völlig gut und ausreichend. Ab dem dritten Tag dachte ich zu den Pausen immer: “Was, schon wieder Essen?”. Man bewegt sich ja kaum und braucht entsprechend weniger. Fasten ist jedoch nicht erlaubt.
  • Vipassana-Kurse können überall auf der Welt besucht werden. Der Ablauf der zehn Tage und die gelehrten Inhalte sind überall gleich, lediglich die Verpflegung und Unterbringung ist abhängig von den örtlichen Gepflogenheiten.

Weitere Informationen über Vipassana-Kurse: www.dhamma.org


Beitragsbild: Licorice Medusa

 

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