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Die Kunst des Scheiterns – Paul (27): Scheitern ist Definitionssache

Null Bock mehr auf utopisch anmutende Erfolgsgeschichten, in denen du dich nicht wiederfindest? Auf der Suche nach inspirierenden Persönlichkeiten, mit denen du dich wirklich identifizieren kannst? Lass uns der in unserer Leistungsgesellschaft propagierten Einzelkämpfer-Mentalität den Rücken kehren – MUCBOOK ist auf der Suche nach Menschlichkeit!

Menschen. Überall Menschen. Ich stehe vor dem Haupteingang der LMU und frage mich, ob es irgendjemandem auffallen würde, wenn ich nicht hier wäre. Wohl kaum. Ich bin inmitten von meinesgleichen und fühle mich nur eines, nämlich einsam. Es ist die Anonymität einer Massenuniversität in einer Massenstadt, der ich entgegenwirken will.

Ich möchte eine Porträt-Reihe über das Scheitern schreiben, damit junge Menschen sich guten Gewissens vom Joch des Erfolgszwanges befreien können. Jeder Fehler macht uns klüger und Glück ist nicht gleich Geld! So weit, so naiv und idealistisch. Aber einen Versuch ist es wert – auch auf die Gefahr hin, zu scheitern …

Sechs Schritte vor, zwei nach rechts – „Hey“, höre ich mich sagen. Zusammengekniffene Augen schauen mich ungläubig an.

„Bist du schon mal gescheitert?“, frage ich.

„Ne, sorry“, nuschelt die den Blick unter Stirnrunzeln wieder auf ihr Handy senkende Person vor mir. Ich zwinge mich weiter, kassiere eine Abfuhr nach der anderen, stehe kurz vor der Kapitulation.

Dann treffe ich Paul (Name geändert). Er lacht laut als Reaktion auf meine Frage, sagt ausgelassen, da wisse er gar nicht, wo er anfangen solle.

Gestatten, Paul, 27 Jahre, Student der Wirtschaftspädagogik an der LMU

Paul ist ein Verstandesmensch. Pessimist zu sein, erfordere keinen Mut, erklärt er mir. „Man sollte die Dinge sehen, wie sie sind, und auf dieser Grundlage Visionen entwickeln, wie die Dinge sein könnten.“ Er wirkt ehrgeizig und beschreibt sich als selbstkritisch. Ich frage ihn, wie es sich anfühlt, Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Paul erzählt.

Paul hat eine Ausbildung zum Rechtsanwaltsfachangestellten absolviert. Seine Freundin arbeitete in der gleichen Kanzlei wie er. Beide waren überzeugt von seiner Arbeit und deren Qualität, doch seinen Vorgesetzten konnte Paul nie gerecht werden. Es war eine unbeschreiblich frustrierende Zeit. Das Schlimmste war das Gefühl der Hilflosigkeit. Keinen Einfluss darauf zu haben, wie die Menschen ihn sahen – als Auszubildenden und als Menschen. Paul musste erst lernen, dass die Anstrengungen umsonst waren, das Bild, das andere von ihm hatten, zu korrigieren. Jeder Versuch, das Problem zu lösen, war zum Scheitern verurteilt.

„Ich spürte irgendwann nur noch Ohnmacht und Kälte“, beschreibt Paul.

Schließlich musste er das Unternehmen vorzeitig verlassen und wurde somit in seiner Ausbildung im Stich gelassen. Geschafft hat er den Abschluss trotzdem. Den Beruf hat er jedoch keinen einzigen Tag mehr verfolgt.

Ich möchte wissen, wie Pauls Umfeld auf sein Scheitern reagiert hat.
„Meine Freundin, die die ganze Sache ja direkt miterlebt hat, wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Wir haben uns abends oft über die Situation auf der Arbeit unterhalten. Sie hat öfter geweint als ich. Das hat mich fertiggemacht. Ich fing an zu glauben, dass ich schuld daran bin, dass sie derart traurig und verzweifelt war. Ich war kurz davor, in eine Depression zu fallen.“
Trotzdem gab seine Freundin ihm auch viel Kraft und half ihm zu verstehen, dass er kein Versager war.

Heute weiß Paul, dass Scheitern Definitionssache ist und man sich darauf konzentrieren sollte, was man aus schwierigen Zeiten lernen kann. Inzwischen lässt er vieles nicht mehr so nah an sich heran, um nicht in einen Sog der Verbitterung zu geraten.

Was er dir in einem ähnlichen Struggle rät?

„Einen sogenannten ‘Break State’ vollziehen. Die radikale Änderung des aktuellen emotionalen Zustands, sobald du drohst, in eine emotionale Negativspirale einzutauchen, die mit dem Scheitern einhergeht. Versuche, eine neutrale oder positive Haltung einzunehmen.“

Das erscheint mir sinnvoll, klingt jedoch leichter gesagt, als getan. Ich bitte Paul um Tipps.
Er nennt den Gedanken an die letzte Alpentour mit den engsten Freunden oder an den besten Sex, den du je hattest, als Beispiel.
„So assoziierst du den Moment des Scheiterns nicht mit dem reflexartig aufkommenden Negativgefühl.“ Das sei die größte Gefahr an der Sache – als Konsequenz Ängste davor zu entwickeln, Dinge zu wagen.

Paul bereut nichts:
„Ich kenne mich nun sehr viel besser und werde glücklicher mit jeder Veränderung meiner Umwelt. Ob ich sie anstoße oder sie mich anstößt.“

 

Herzlichsten Dank und höchsten Respekt an die lieben Menschen, die bereit waren, so offen mit mir zu reden!

Möchtest du deine eigene Geschichte über das Scheitern bei MUCBOOK lesen und deine durch sie erlangten Lebensweisheiten mit unserer Community teilen? Schreib mir einfach!


Beitragsbild: © Annika Säuberlich

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