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Was für eine Zeit: Zugezogen Maskulin kommen

Benjamin Brown

Im Februar 2015 erschien das erste kommerzielle Album des Deutschrap-Duos Zugezogen Maskulin unter dem Titel „Alles Brennt“ – und brachte die beiden Rapper Grim104 und Testo (endgültig) auf die Bildfläche des deutschsprachigen Hip-Hop. Das Album polarisierte extrem – ebenso wie der Nachfolger “Alle Gegen Alle”.

Im neuen Jahr geht das Duo im Land zwischen Bergen und Meer auf Tour – und am 17.01.2018 spielen sie im Strom!

Um euch auf das Konzert einzustimmen, hat sich Sascha Gontcharov “Alle Gegen Alle” näher angehört:

Zu einer Zeit, in der die sowieso schon chaotische politische Situation in Deutschland, Europa und auf der Welt für große Unruhen sorgte, schlug das Debütalbum von Zugezogen Maskulin ein wie eine Bombe und spaltete die Meinungen. Auf diesem Album thematisierten die beiden Künstler etwa mit „Oranienplatz“ die Flüchtlingskrise, schilderten ihr eigenes Bild von einem sehr verwahrlosten und immer noch sozial und wirtschaftlich abgehängten Ostdeutschland, kritisierten den Kriegswahn und die Ausbeutung als Nebeneffekt des Kapitalismus und erzählten in Songs wie „Grauweißer Rauch“ vom Kiffer-Wahnsinn aus der eigenen Jugend.

Durch Grim104s wütende Reime und Testos aggressiven Flow, der irgendwie auch perfekt in einen K.I.Z.-Track reinpassen könnte, in Kombination mit intelligenten, witzigen aber auch sehr direkten Texten, konnte Zugezogen Maskulin schnell eine respektable Position in der Rapszene einnehmen.

Nach einer guten Platte waren die Ansprüche an die nächste dementsprechend hoch, und so warteten die ZM-Fans ungeduldig auf das Album „Alle Gegen Alle“, welches schließlich am 20. Oktober 2017 bei Four Music erschien.

Titel und Cover an sich lassen schon erahnen: die ZM-Gang hat nicht gerade den Kurs in Richtung Gute-Laune-Rap gerichtet, es werden wohl wieder hässliche Tatsachen ausgesprochen werden.

1. Intro

Ein Beat, der einem gleich zu Beginn das Blut in den Adern gefrieren lässt – und ab der Mitte des Tracks wird gezeigt, dass die beiden Rapper noch wütender sind, als je zuvor. Also gleich eine fette Ansage in Musikform, die sicherlich auch bei den kommenden Live-Konzerten als sehr geeigneter Einstieg dienen könnte. Da zuckt man schon das ein oder andere mal zusammen, ist ja schließlich das „Ende der Gemütlichkeit“.

2. Was für eine Zeit

Empfiehlt sich vor allem in Kombination mit dem Musikvideo von Martin Swarovski, der schon zu dem einen oder anderen ZM-Track beeindruckende Filme produziert hat. Mit einem innovativen Beat von Silkersoft, der von Anfang an für eine unruhige und energiegeladene Atmosphäre sorgt und einer Hook, die auf jeden Fall im Gedächtnis bleibt, war dieser Track auf jeden Fall als Vorab-Single geeignet. Auch der Text regt wieder zum Nachdenken an: es werden die Übel der heutigen Zeit vorgeführt und eine konsumsüchtige, oberflächliche Gesellschaft inmitten von Krieg und Katastrophe bemängelt.

Alles in allem sehr raffiniert getextet und ein mehr als solider Track. Doch vor allem anhand dieses Tracks macht sich eine allgemeine Schwäche am Album bemerkbar: Zugezogen Maskulin begeistert mit sozialer Kritik, oft in sehr übertriebener und überzogener Form. Ein durchgehendes „Schwarzmalen“ könnte jedoch irgendwann zu einfallslos, zu einseitig werden. Es sollte schließlich nicht nur darum gehen, Missstände aufzuzeigen und die scheinbar grenzenlose Stupidität unserer Generation anzuprangern.

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3. Uwe & Heiko

Auf diesem unglaublich atmosphärischen Track setzen sich Testo und Grim104 mit den Menschen und Bekannten aus ihrer Jugend in Ostdeutschland auseinander, wobei Erinnerungen aus einer Zeit, die nicht all zu lange her ist, mit Eindrücken aus der Gegenwart, die einen zum Nachdenken anregen, aufeinanderprallen.

4. Alle gegen Alle

Dieser Song ist erstaunlich ruhig für einen Zugezogen-Maskulin-Titeltrack, das Instrumental hat schon etwas von einem älteren Casper-Song. Der Text behandelt im Großen und Ganzen den Menschen des 21. Jahrhunderts – egozentrisch und erfolgsorientiert, wo es nur um Status, Karriere und Geld geht und jeder eigentlich nur für sich selber kämpft. Alle gegen alle – „Kampf um jeden Like!“ Ist schließlich Motto dieser Platte.

5. Vor Adams Zeiten

Schauriger Beat. Viel Autotune in der Hook – da testet Testo mal wieder die Wunder der digitalen Musikproduktion aus, zeigt im selben Atemzug aber wieder seinen klassischen ZM-Flow.

6. Stirb!

2011 wäre dies eine Hasshymne gegen den klassischen Hipster gewesen.

7. Yeezy Christ Superstar

Und dies ist dann wohl die Hymne gegen den eher aktuellen Hipster. Jeder Fashion-Killer, Off-White-Träger, Supreme-Fan und was sonst so noch da draußen existiert, wird gnadenlos zerlegt. Begleitet von einem kristallklaren Beat, der etwas sehr eigenes und neues schafft, und perfekt in den Geist dieser Hypebeast-geprägten Zeit passt. Und hin zum Ende lässt er sogar ein bisschen Afterhour-Stimmung aufkommen, so dass man tanzen und gleichzeitig darüber nachdenken kann, ob man Comme des Garçons richtig ausgesprochen hat.

Wer ein 88er Sowjetunion-Trikot hat, braucht keine Yeezys!

8. Nachtbus

Hier behandeln Grim104 und Testo ihre dunkle Vergangenheit – das bedrückende Provinzleben in Niedersachsen, beziehungsweise Mecklenburg-Vorpommern. Ein schöner Einstieg auf den „Fresh Prince of Bel Air“-Titelsong, danach geht es sofort aggressiv weiter mit einem übersteuerten und sehr „rohen“ Beat a lá XXXTentacion. Was folgt ist eine Hook, die einen irgendwie nur verdutzt die Kopfhörer ab- und wieder aufsetzten lässt. Trotz des zeitweise fast komisch-fröhlichen Instrumentals wird hier vor allem von Lebensumständen erzählt, die die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus solchen äußerst nachvollziehbar machen. Hier werden Land-Stadt Stereotypen miteinander verglichen und dabei Parallelen und Gegensätze beschrieben.

9. Teenage Werwolf

Auf diesem Track, dessen Titel auf das Lied „I Was a Teenage Werwolf“ der Punkrock-Band „The Cramps“ anspielt, packt Grim104 zunächst wieder einen extrem wütenden, sehr expressiven Part auf einen minimalistisch gehaltenen Beat aus. Er, so wie Testo, schildern in diesem Lied eine eher spätere Jugendphase, ähnlich wie bei „Plattenbau O.S.T.“ von der Vorgängerplatte.

10. Steffi Graf

Ein aggressiver, wutgeladener Song, untermalt mit wummernden 808s und düsteren Klängen – einen Moshpit kann man sich auf jeden Fall hierzu perfekt ausmalen. Dazu wird in Testos Part noch richtig gegen RIN und alle anderen brillentragenden Künstler, ob mit oder ohne Mönchfrisur, ausgeteilt – „Es ist 12 Uhr – du kaufst dir Supreme, soll noch einer sagen deutsche Rapper haben nichts zu erzählen. Es ist ein Uhr – jeder deiner Trottelfans kauft auch. Zwei Uhr, Supreme schon wieder out.“ Simple und komplex zugleich, irgendwo stumpf aber auch unglaublich raffiniert – damit begeistern Zugezogen Maskulin immer wieder.

11. Der Müde Tod

Grim schildert auf diesem Track seine Emotionen nach dem Tod eines ihm nahestehenden Familienmitgliedes. “Das war der direkte Anlass und hat auch in die deprimierte Grundstimmung reingepasst. Der Song hat aber mehrere Ebenen – Themen wie der Tod, Sterben oder Kranksein, die innerhalb von einer Verwertungsgesellschaft nicht stattfinden können, weil sie irgendwie unangenehm sind”, erzählt der Rapper im Laut.de-Interview. Die Anspielungen auf das Gedicht „Todesfuge“ des deutschen Lyrikers Paul Celan geben dem ganzen einen noch düstereren Beigeschmack.

12. Steine & Draht

Hier wird anhand der eigenen Biografien sehr anschaulich ein Bezug zur Vergangenheit und Entwicklung Deutschlands hergestellt. Historische Entwicklungen und Ereignisse, wie vor allem die Nachkriegsphase der BRD und das kommunistische Regime im Osten, werden hier zu einem etwas sanfteren Beat subtil mit den eigenen Erfahrungen und Gedanken verschmolzen und aufgearbeitet. Gleichzeitig werden Fragen bezüglich der heutigen Relevanz von Dingen wie Identität und Nationalstolz in den Raum gestellt. Chapeau.

Zusammenfassend kann man also sagen: das Niveau von „Alles Brennt“ wurde nicht nur gehalten, es wurde gehoben. Themen und Texte, die nicht all zu sehr von ihren Vorläufern abdriften, aber gleichzeitig innovativ einen etwas weiterentwickelten Kurs annehmen. Irgendwo abstrakter, dann aber auch viel direkter, ein bisschen allumfassender, ein wenig weitsichtiger. Wütender, aber auch irgendwo melancholischer. Alles Eigenschaften, die für eine extrem gute zweite kommerzielle Platte sorgen. In Kombination mit unglaublich einfallsreichen und sehr starken Beats ergibt sich eine solide Platte, bei der zwar nicht jeder Song als Ohrwurm zum Mitsingen im Kopf hängen bleibt, aber dafür viel mehr zum zuhören (oder live dann wohl zum ausrasten) und nachdenken bringt. Da kann man auch über die extremen Vorwürfe gegen die jetzige Generation, Gesellschaft, Politik und den heutigen Menschen hinwegsehen – schließlich haben sie ihre Berechtigung, auch wenn sie jedoch nicht zum einzigen Hauptinhalt werden sollten.


In aller Kürze:

Was? Zugezogen Maskulin
Wo? Strom
Wann? Mittwoch, 17.01.2018
Wieviel? VVK 21,60€ zzgl. Gebühren


Sascha Gontcharov

© Fotos: Robin Hinsch / Buback Tonträger GmbH

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