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Meine Halte: Hauptbahnhof, Alter!

Gestern beim Zahnarzt sagt die Sprechstundenhilfe wohlmeinend: „Da sind Sie jetzt bestimmt froh, dass Sie umgezogen sind.“

Nein, ich bin nicht froh! Am Hauptbahnhof wohnt es sich richtig gut. In tiefer Trauer habe ich meine Haltestelle vor einem Monat hinter mir gelassen. Was soll am Hauptbahnhof nicht gut sein? Mal ganz abgesehen davon, dass der Hauptbahnhof ungefähr der einzige Ort in München ist, von dem man fast immer überall hin und – noch besser – wieder nach Hause kommt, ist es dort auch einfach schön.

Wo ist denn hier der Ausgang?

Einmal aus dem Labyrinth der vielen Untergrundebenen gefunden eröffnet sich eine für München ganz untypische Welt: Es ist laut, schmutzig (ok, etwas schmutziger als das restliche blitzsaubere München halt) und voller Menschen. Oft als Klein-Istanbul bezeichnet, wird ein großer Teil der Ludwigsvorstadt tatsächlich von türkischen beziehungsweise arabischen Läden dominiert.

Ich mag das Gefühl fremd zu sein in der eigenen Stadt – ein bisschen wie Urlaub. Besonders jetzt, da ich den Haupbahnhof verlassen musste, fehlt mir das Lebensgefühl. Wo gibt es täglich so viel frische Petersilie und Koriander für so wenig Geld zu kaufen wie beim Verdi Supermarkt? Wo bekomme ich zu jeder Tageszeit frisch gebackenes arabisches Brot? Und warum hat kein Restaurant so leckere Vorspeisen wie das Sultan Backparadies in der Goethestraße?

Baklava statt Bienenstich, Shisha-Bar statt Wirtshaus

Unfassbar süß, klebrig und mindestens genauso lecker sind die typischen orientalischen Süßigkeiten. Goldglänzend lächeln sie mir aus dem Schaufenster zu. In der Landwehrstraße gibt es sogar ganze Läden nur für Baklava. So frisch und in so großer Auswahl gibt es die nirgends sonst in München.

Sahnetorten ganz anderer Art sind in den Schaufenstern der Brautmodengeschäfte zu bewundern. So eine türkische oder arabische Hochzeit verlangt offensichtlich einiges an Pomp und Rüschen.

Neben gefühlt einer Millionen Shisha-Bars, gibt es gut versteckt eine kleine Eventlocation und Teilzeitbar, die Karotte. Nur donnerstags von 17-1 Uhr können hier im Hinterhof der Goethestraße gemütliche Biere, Drinks und kleine Snacks konsumiert werden. Auch die ein oder andere Shisha-Bar ist einen Besuch wert, so gibt es in der Infinity-Lounge – ja, der Name ist eher abschreckend – ein Spielzimmer mit Kicker und Tischtennisplatte.

Meiden würde ich die Ludwigvorstadt am Samstag. Typisch deutsch wird am Samstag Vormittag dort nämlich der Wochenendeinkauf erledigt, inklusive Stau und meterlanger Schlange an der Kasse. Die Wenigsten wohnen hier, die meisten kommen extra mit dem Auto zum Einkaufen angereist. Deswegen ist dann nicht nur im Supermarkt, sondern auch auf der Straße Stau. Fest eingeplant sind jetzt allerdings auch bei mir die samstäglichen Einkaufsfahrten – zum Glück gibt es die Öffentlichen!

Tschüss mein kleines Paradies!

Auch in diesem Viertel schreitet die Gentrifizierung fort. Hipsterbars haben hier zwar noch keine Überlebensmöglichkeit, das kann sich aber bald ändern. Gehobene Wohnprojekte wie das “Das Goethe” mit Luxuslofts sollen in den nächsten Jahren entstehen…

Beitragsbild: Ich (Anne Götzelmann) und meine Halte in angetrunkenem, sentimentalem Zustand.

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