Gemeinwohlwohnen - Samuel, Taron, Julia
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Es ist “entwürdigend, nicht selbst bestimmen zu können, wann man hungrig ist” – wie Inklusion mit GemeinwohlWohnen e.V. anfängt

Sarah Kampitsch

Menschen mit Beeinträchtigungen trifft man am freien Wohnungsmarkt selten an: Ein Großteil der Münchner Wohnungen sind nicht barrierefrei und verfügen nicht über die notwendigen Vorkehrungen.

Oft müssen Menschen mit Behinderungen so ein Leben lang im Elternhaus wohnen bleiben oder finden sich in sozialen Einrichtungen wieder, in sogenannten “Inklusiven WGs”, die einen selbstständigen Lebensstil ermöglichen sollen. Hier teilen sich mehrere Menschen mit Behinderung eine Wohnung und werden von externem Pflegepersonal betreut. Der Alltag ist geprägt von Dienst- und Duschplänen, es gibt fixe Essenszeiten und Nachtruhe. Für einen erwachsenen Menschen ist das “entwürdigend, nicht selbst bestimmen zu können, wann man aufstehen und zu Bett gehen möchte, und wann man hungrig ist”, findet Samuel.

Samuel Flach, der selbst im Rollstuhl sitzt, ist Vorstand des seit 2016 bestehenden Vereins GemeinwohlWohnen e.V., der sich für ein “richtiges” inklusives Wohnen für benachteiligte Gruppen einsetzt. Wir haben uns mit ihm sowie den Vorstandsmitgliedern Taron Geissler und Julia Francis Kiefer zum Kaffee getroffen und darüber geredet, was Inklusion für sie bedeutet.

Inklusion in allen Bereichen

Samuel und Pfleger Taron lernten sich vor Jahren kennen, als Nachbarn im Olympiadorf. Später wurde Taron Samuels treuer Freund und Assistent, fuhr sogar mit ihm ins Auslandssemester nach Kuba. Aus der Freundschaft entwickelte sich ein Projekt, das beiden am Herzen liegt: Ein WG-Leben zu ermöglichen, das Gemeinschaft und Miteinander in den Vordergrund stellt und von den Rollen “Pfleger” und “Pflegebedürftiger” zurücktritt. Ihre Idee fand in Bekanntenkreisen schnell Anklang und entwickelte sich bis 2016 zum Vereinsprojekt, das heute 12 Mitglieder schreibt.

Nun ist plötzlich alles sehr echt: Ein Baugrund ist gefunden, die Firma Euroboden steht in den Startlöchern, den Bau eines behindertengerechten Hauses zu beginnen, das ein Architekt in Absprache mit GemeinwohlWohnen plant. Ein Fundraising soll 1,5 Stellen ermöglichen, um den Vorstand aus dem Ehrenamt zu entlasten, sodass sie sich voll und ganz auf ihr Herzensprojekt konzentrieren können. Die geplante Umsetzung: Bis 2022 soll eine inklusive WG geschaffen werden, die zu gleichen Teilen aus Menschen mit Behinderungen, Migranten und Geringverdienern besteht. Anstatt jeweils separat untergebracht und somit isoliert zu werden, sollen sich die Gruppen gegenseitig unterstützen und sich so ein selbstbestimmtes Leben zu eigen machen. Im Gegenzug für eine durch Zuschüsse und Pflegeleistungen sehr gering gehaltene Miete ist jeder Mitbewohner für ein paar Tage im Monat verantwortlich und zuhause. Ein Projekt mit Zukunftsperspektive.

Mucbook: Ihr habt erstmal nur eine WG in Planung. Soll der Verein mal richtig groß werden?

Taron: “GemeinwohlWohnen sieht sich nicht als große Kette, sonst wäre die Idee auch verfälscht.
Samuel: “Wohnkonzepte, die es bisher schon gibt, werden meist von großen Institutionen umgesetzt und da spielen natürlich hauptsächlich Profit-Interessen mit rein. Inklusives Wohnen ist ja sehr verbreitet, aber ich finde das so nicht inklusiv. Da gibt es immer eine klare Betreuerperspektive, wir möchten dass sich die Bewohner selbst organisieren können. Wir wollen viel mehr ein Sprachrohr sein für andere, die Ähnliches umsetzen möchten, und sie beraten und unterstützen.”

Als Mitglied des Bündnis Inklusives Wohnen wollen sie zum Sprachrohr für ganz Deutschland werden. Bereits jetzt finden sie großen Anklang bei Betroffenen, bekommen regelmäßig Anfragen von Müttern, die Wohnplätze für ihre erwachsenen Kinder suchen, von Studenten und Arbeitslosen. Ein Netzwerk wächst weiter, ermöglicht es GemeinwohlWohnen sich Deutschlandweit um Partner und Unterstützer zu erweitern. Den Ansturm verwalten sie, indem sie weiterverweisen: Irgendwo kennen sie schon jemanden, mit dem man sich zusammentun kann, seien dies ähnliche Organisationen, ähnliche Projektideen oder einfach Leute, die selbst eine WG gründen möchten.

Wer darf denn bei euch einziehen?

Taron: “Wir haben da nicht wirklich Richtlinien. Wir sagen nicht ‘du musst diese Art von Behinderung aufweisen’ oder ‘wir nehmen nur diese Art von Geringverdienern’. Das wäre dann ja wieder nicht inklusiv.
Julia: “Viel wichtiger ist einfach das die Chemie stimmt.”
Taron: “Und Geringverdiener, das sind ja auch Auszubildende, Studenten, Künstler…
Samuel: “Das Wichtigste ist eigentlich, dass Leute dazukommen, die Lust haben, mitzumachen. Dass sie Spaß daran haben, das gemeinsam mit uns aufzubauen und sich zu beteiligen.

Muss man bei euch Vereinsmitglied sein?

Julia: “Nein absolut nicht; niemand muss bei uns mitmachen, der in einer WG von uns lebt.”
Taron: “Aber es ergibt sich vermutlich dann automatisch sowieso, weil wir die Leute ja vorher auch schon miteinbinden.”
Samuel: “Wir rufen auch immer Leute auf, bei uns mitzuorganisieren, bei Veranstaltungen zu helfen und so weiter. Man muss auch nicht in einer WG wohnen wollen, um bei uns mitzuhelfen. Wir haben immer wieder Leute, die mit dem Thema Behinderung nichts am Hut haben, aber einfach gerne Veranstaltungen organisieren würden.
Taron, lacht: “Also wenn jemand eine WG abzugeben hat, wir nehmen sie gerne!

Gemeinwohlwohnen - Samuel, Taron, Julia

Wie überwindet ihr die Hemmschwelle zur Pflege beziehungsweise zur Hilfe bei der Pflege?

Samuel: “Genau genommen betrifft das ja jeden: Fast alle werden irgendwann pflegebedürftig. Oft setzt man sich nur viel zu spät damit auseinander.

Auch ältere Menschen sollen die Möglichkeiten haben, in die WG einzuziehen: Für viele ist eine WG eine bessere Entscheidung, als ein Heim.

Was sind eure Wünsche für die nächsten Jahre?

Taron: “Zum einen natürlich, dass wir das Projekt nachhaltig auf die Beine stellen können, und dafür brauchen wir eben Geld. Wir müssen langfristig vom Ehrenamt weg. Ansonsten wollen wir möglichst viel in die Öffentlichkeit gehen über Veranstaltungen, wie unsere Barrierefreie Sschnitzeljagd, die für 2019 geplant ist.”
Samuel: “Inklusion ist auf jeden Fall ein Schlagwort geworden, dieses Miteinander unter allen Gruppen zu fördern”
Julia: “Das hat viel mit Sichtbarkeit zu tun, das ist denke ich auch eine der zentralen Sachen: Das wir Sichtbarkeit schaffen wollen.

Ihr erwähnt Sichtbarkeit. Was versteht darunter?

Samuel: “Wir wollen einfach, dass der Großteil der Menschen fast keine Berührungsängste hat..
Julia: “… und es nicht zu so einer Verkrampftheit im Umgang (mit Behinderten) führt. So wie Mütter ihre Kinderwägen durch die Stadt schieben, so normal sollen auch Menschen mit Behinderungen durch die Stadt ziehen dürfen.

Die in München vorhandenen Institutionen seien großteils im zweiten Weltkrieg entstanden und nicht mehr modernisiert worden; die allgemeine Annahme, eine Problemgruppe müsse fremdverwaltet und der Allgemeinheit entzogen werden, um sie unproblematisch zu machen, ist leider immer noch vorhanden: Die Stadt löst diese Problemstellungen mit Altenheimen, Obdachlosenheimen, Geflüchtetenheimen. Hauptsache immer schön getrennt. Die Möglichkeiten auf Selbstmanagement werden direkt entnommen. “Dann heißt es wieder: Die wollen sich nicht integrieren”, schüttelt Julia den Kopf. Dabei wäre die beste Idee der Förderung dieser Gruppen, ihnen ein selbstbestimmtes Leben als Teil der Gesellschaft zu ermöglichen, und sie nicht von grundherein von dieser auszuschließen. Beinahe scheint es eine humanitäre Aufgabe zu sein, sich um Behinderte zu kümmern.

GemeinwohlWohnen möchte Erfahrungen mitgeben, der Gesellschaft zu verstehen geben, was es bedeutet, im Rolli zu fahren. 

Zu GemeinwohlWohnen e.V.:

Der Verein wurde 2016 gegründet, um Inklusives Wohnen für Menschen mit Behinderungen, Migrationshintergrund und Geringverdiener zu ermöglichen und zu fördern. 2022 soll die erste inklusive WG am Rosenheimer Platz eröffnet werden.


Fotos: Sarah Kampitsch & GemeinwohlWohnen e.V.


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