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Auf Tour mit zwei Mülltauchern

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Containern – ein Selbstversuch
Reportage aus der Mucs Nr.16

Jeden Tag werden in Deutschland tonnenweise genießbare Lebensmittel weggeschmissen – nicht nur in Privathaushalten, sondern vor allem auch von Supermärkten. Doch was für die einen reif für die Tonne ist, ist anderen gerade recht – um ihren Kühlschrank kostenlos zu füllen.

Pascale Arnold

Rechts die Mülltüte, links eine leere Einkaufstasche. Ich gehe zu den Mülltonnen und denke mir: „Und daraus soll ich mir heute noch mein Essen suchen?“ Ich schmeiße schnell den vollen Abfallbeutel hinein, mich ekelt der gammlige Mülltonnengeruch, der mir in die Nase steigt. Einige Stunden später an diesem Dienstagabend, es ist kurz vor Mitternacht. Ich warte an einer U-Bahn-Station. Nur noch wenige Menschen laufen durch die dunklen Straßen. Die letzten Geschäftsleute sind auf dem Heimweg nach einem langen Arbeitstag, ein paar Jugendliche machen sich ins Nachtleben auf. Da hinten laufen zwei Kerle mit leeren Einkaufstaschen. Einkaufstaschen nachts um halb zwölf? Das werden sie sein. Denn wenn Supermärkte um acht Uhr ihre Türen schließen und es dunkel ist, beginnt ein kleiner Teil der Gesellschaft, seinen Kühlschrank für die nächste Woche zu füllen – mit dem, was andere übrig lassen. Zu den sogenannten Containerern gehören auch die beiden Jungs mit den Einkaufstaschen. Die Kontaktaufnahme war schwierig. Nach etlichen Einträgen in einschlägigen Foren, unbeantworteten E-Mails und ratlosen Redaktionen stellte
am Ende eine Urban-Gardening-Aktivistin den direkten Draht her. Hört man von Menschen, die sich ihr Essen aus dem Müll suchen, denkt man zuerst an Obdachlose, die kein Geld haben und die vergammelte, fast schimmlige, stinkende Sachen aus dem Müll fischen und sich davon ernähren, weil sie es sich nicht leisten können, sich im Supermarkt ihre Wunschprodukte auszusuchen. Doch nicht nur sie kommen so über die Runden. Containerer oder auch Dumpster Diver (englisch für Containertaucher) tauchen nachts durch die Mülltonnen der Supermärkte und suchen sich ihr Essen für die nächste Woche zusammen. Der Unterschied zu den Bettlern: Sie hätten das Geld, um Obst, Gemüse, Milch und Eier legal im Supermarkt zu kaufen. Doch sie verzichten darauf, aus Überzeugung, erzählt mir einer der zwei Studenten, mit denen ich mich zum Containern getroffen habe. Sie wollen gegen die Wegwerfgesellschaft rebellieren und nicht zusehen, wie gutes Essen in den Mülltonnen landet und dort vergammelt, bis es dann entsorgt wird.
Die beiden jungen Männer gehen zielstrebig ihren Weg. Dunkle Hose, schlichte Jacke und in den Händen leere Taschen. Wir laufen an einer großen, bunt leuchtenden Reklametafel vorbei zu einem Supermarkt. Das Geschäft ist nur noch von außen beleuchtet und der Parkplatz leer. Ein kurzer Blick zur Straße und wir biegen auf den Hinterhof. Eine Reihe Mülltonnen, ordentlich aufgestellt. Wir heben den Deckel der ersten hoch, mein Handy muss als Taschenlampe
herhalten. Ich mache mich auf den stinkenden Mülltonnengeruch gefasst, wie ich ihn noch am Nachmittag bei meiner Mülltonne hatte. Doch es kommt nicht wie erwartet.

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Im Container liegt Gemüse. Nicht stinkend, faulig und matschig, sondern saftig rote Tomaten, grüner Salat mit einem leicht welken Blatt, Karotten, Paprika. Gestank? Keineswegs! Ein ganz leichter Mülltonnengeruch strömt mir entgegen, aber nicht halb so stark wie zu Hause. Die nächste Tonne: Obst. Schimmel und Obstfliegen? Auch hier Fehlanzeige. „Isst du Avocados? Die Kiwis kann ich mir morgen in die Uni mitnehmen.“ Die beiden jungen Männer fangen an, ihre mitgebrachten Taschen zu füllen. Sie überlegen, wie viele Äpfel, Mangos und Bananen sie für die nächste Woche brauchen. Auch das Gemüse sortieren sie vor – brauchen wir, brauchen wir nicht – schon ist die nächste Tasche voll.

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Aus der Ferne nähert sich ein Auto, ein kurzer Blick fällt auf die
Straße. Doch es ist nur ein Taxi. „Einmal wurden wir von der Polizei angehalten, als wir mit unserem Einkauf auf dem Weg nach Hause waren“, erzählt einer der beiden. „Der Polizei war es eigentlich egal, als wir gesagt haben, dass wir containern.“ Das größere Problem für sie seien die Supermarktbetreiber, erklärt er mir. Die bauen mittlerweile Gitter vor ihre Mülltonnen oder beschäftigen Sicherheitsdienste, um das Containern zu verhindern – denn formell ist der Müll ihrer
und es ist illegal, ihn sich zu nehmen. „Oje, jetzt kommt zu Diebstahl auch noch Hausfriedensbruch“, denk ich, als wir beim nächsten Supermarkt ankommen. Dort stehen die Mülltonnen nicht einfach offen herum. Wieder schaut einer der Jungs kurz auf die Straße, ob keiner kommt, dann öffnet er die Tür zur Anlieferungshalle und schaut sich einmal um, ob noch Supermarktangestellte da sind. Doch niemand ist da, es ist schließlich spät in der Nacht.

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Unsere Essenssuche kann weitergehen. Frischer verpackter Spargel, Blumen und noch mehr Obst und Gemüse kommen in die Einkaufstaschen. „Obst und Gemüse gibt es hier am meisten“, sagt einer der Jungs, er klingt routiniert. „Unsere beste Ausbeute hatten wir mal bei einem Supermarkt ein paar Straßen weiter: Bio-Lachs mit Crème fraîche. Dort gibt es oft verpackte Sachen, die nur ein oder zwei Tage vor dem Mindest-Haltbarkeits-Datum sind.“ Auch hier kein aufdringlicher Mülltonnengeruch, kein Schimmel, kein Ekel. Nach kurzem Zögern packe ich mir ein paar Paprika und Bananen ein. Keine Viertelstunde dauert es, und wir machen uns wieder auf den Heimweg. Mit voll bepackten Taschen durch die dunklen leeren Straßen von München, um den Müll zurückzubringen – in den Kühlschrank.

Pascale Arnold, 21, Fotostudentin, isst alles gerne, so
lange es kein Chemietütenfraß ist. Ein dickes Eis mit
viel Sahne gehört genauso dazu wie ein frischer
Salat – und am liebsten nicht aus der Tonne.

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Mucs bei der jungen Volkshochschule

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Dumpster Diving auf Wikipedia

Tristram Stuart – Food waste facts

Nahrungsmittelspekulation

Film Taste the Waste
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