Kultur, Live

Das Gute im Menschen

Juliane Becker

Wenn Gabriel Marcía Márquez nicht schon 1985 diesen Titel beansprucht hätte, könnte man Kinder der Sonne problemlos in Die Liebe in den Zeiten der Cholera umbenennen – das Volkstheater feierte am Donnerstag mit Maxim Gorkis Gesellschaftsdrama Premiere.

Es stinkt in der Wohnung von Páwel Fjódorowitsch Protássow (Oliver Möller) und seiner Familie. Das zumindest finden die zahlreichen Besucher, die im Laufe des Abends auftreten. Die zwischen den Wänden hervorwuchernden Algen könnten eventuell der Grund dafür sein, vielleicht auch Páwels chemische Experimente, denen er sein ganzes Leben widmet. Natürlich gehören die Algen auch dazu – er züchtet sie leidenschaftlich gerne und untersucht sie dann unter dem Mikroskop. Dass seine Frau Jeléna Nikolájewna (Barbara Romaner) davon mehr als genervt ist und sich lieber mit ihrem Portraitmaler Dimítrij Sergéjewitsch Wágin (Tobias van Dieken) vergnügt, das bekommt er gar nicht mit. Allgemein ist er mit weiblichen Reizen eher überfordert; als ihm die reiche Witwe Melánija (Mara Widmann) voller Leidenschaft ihre Liebe gesteht, flüchtet er Hals über Kopf zurück in sein provisorisches Labor.

Melánijas Bruder, der Tierarzt Bóris Nikolájewitsch Tschepurnói (Max Wagner), ist wiederum unglücklich verliebt in Páwels Schwester Lísa (Constanze Wächter). Die ist psychisch labil, sitzt meist vor dem Fernseher und weist ihn und seine Liebe erbarmungslos zurück. Und dann ist da noch der Schlosser Jégor (Gusztáv Molnár), vor dem alle ein wenig Angst haben, weil er seine Frau schlägt und volltrunken randaliert.

© Arno Declair

© Arno Declair

Dramen über Dramen. Es ist eine kaputte Familie, eine kaputte Gesellschaft, und dennoch glaubt Páwel an das Gute im Menschen. “Wir sind alle Kinder der Sonne” sinniert er, rauchend im Pool sitzend, und vergräbt sich weiter in seinen Büchern.
Dass außerhalb der heimischen Wände die Cholera wütet, das geht in der Intellektuellengruppe fast unter. Erst als die Frau des Schlossers (Katalin Szilágyi) ebenfalls erkrankt, macht sich Panik breit. Der feste Stand der Oberschicht gerät ins Wanken, die Krankheit macht vor keinem halt. Der vorher für seine Experimente verspottete Páwel wird angefleht, das verseuchte Wasser mit Chlordioxyd zu versetzen, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Er weigert sich – weil er es nicht verantworten könne, solch ein “Massaker” an den Mikroorganismen zu verrichten.

© Arno Declair

© Arno Declair

Es ist ein seltsames, symbolüberladenes Theater, das der ungarische Regisseur Csaba Polgár da auf die Beine gestellt hat. Zwischen Hammer und Sichel, Äpfeln und Jesusfiguren verliert man leicht den Bezug zu den zahlreichen Beziehungskrisen und Skandalen, die sich auf der Bühne offenbaren. Die Schauspieler dagegen glänzen, insbesondere Constanze Wächters Schlussszene ist radikal begeisternd.
Dennoch wird man mit Gorkis Romanadaption nicht ganz warm. Es ist nun mal ein russisches Drama über die Oberschicht; wie interessant kann das schon sein?

Es lohnt sich dennoch, der Inszenierung im Volkstheater einen Besuch abzustatten. Sei es der grausig gemusterten Kostüme wegen, sei es wegen Oliver Möllers putziger Angstzustände angesichts einer vor Weiblichkeit strotzenden Mara Widmann, oder auch nur, um die vollkommen unerwartete Musicaleinlage von Donna Summer’s I Feel Love zu genießen. Einen größeren WTF-Moment gab es in diesem Jahr wohl kaum.

Kinder der Sonne
am 29.09., 25.10., 26.10., 03.11.
Karten ab 8,50€

Informationen und Spielplan www.muenchner-volkstheater.de

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