Kultur, Nach(t)kritik

Das Natürliche ist das Chaos

Annette Walter
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Es ist kein Zufall, dass Arthur Schnitzlers (1862-1931) großartiges Werk „Das weite Land“ derzeit auf deutschsprachigen Bühnen der Renner ist. Es wird am Wiener Theater in der Josefstadt gespielt, im Burgtheater läuft es seit über zwei Wochen und nun feierte es am Münchner Residenztheater Premiere. Regie führt Martin Kušej, der neue Intendant, auf dem immense Erwartungen ruhen. Wahrhaftig und aufwühlend sind die psychologisch hochkomplexen Werke des vor 80 Jahren verstorbenen Wiener Dramatikers und Schriftstellers heute noch.

theater waler
Foto Copyright: Hans Jörg Michel

In einem Interview mit dem Münchner Merkur bekannte KuÅ¡ej, er stünde für ein irritierendes Theater. Die Inszenierung von “Das weite Land” am Residenztheater ist alles Mögliche, aber nicht irritierend. Sie verzichtet auf Kapriolen und setzt auf das gesprochene Wort. Ein Großteil der Wirkung der Tragikomödie ist den brillanten Dialogen Schnitzlers zu verdanken, die an sich schon ein literarisches Großereignis sind. Wie gut, wenn ein solches Stück keinem Theaterzerstörer in die Hand fällt.

Doch nun zur Geschichte: Wir sind im Wien des ausgehenden Kaiserreiches, die Stimmung ist dekadent, der materielle Wohlstand der Beteiligten groß, weshalb sie sich der Innenschau, der Erkundung der eigenen Befindlichkeit bis zur totalen Erschöpfung hingeben, kurzum eine Gesellschaft voller Dekadenz, aber auch voller Verlogenheit. Im Mittelpunkt steht die Ehehölle des Unternehmers Friedrich Hofreiters (Tobias Moretti) und seiner Gattin Genia (Juliane Köhler). Die beide verbindet nur noch ihr Sohn Percy und die Lust, einander anzuklagen und zu verletzen. Das eigentliche Ereignis, dass die Handlung in „Das weite Land“ antreibt, ist ein Selbstmord, der vor der Spielhandlung stattfand: Der Suizid des begabten Pianisten Korsakow. Hatte er eine Affäre mit Genia? Hofreiter vermutet dies. Und etliche weitere Akteure des Stückes weiden diese mögliche Affäre genüsslich aus.

Die Darstellung des Abends gibt zweifellos Tobias Moretti, Dreh- und Angelpunkt des perfiden Reigens. Hofreiter ist ein neoliberaler Womanizer, der alle um den Finger wickelt, der bis zum Ende mysteriös bleibt, doppeldeutig, keine Lösung anbietend. So ist er eben, der von der Moderne gebeutelte Mensch. Nur am Ende des Stückes, als er das Rufen seines Sohnes Percy hört, zeigt Hofreiter eine Gefühlsregung. Eine grandiose Vorstellung, die Moretti ablegt. Allein seinetwegen lohnt sich der Theaterbesuch.

Das Personal, das größtenteils den Müßiggang ausleben kann, wie Unternehmergattin Genia Hofreiter, gibt sich voll und ganz seinen Gefühlsverwirrungen hin und lebt diese aus. So plaudert sich das Ensemble voller Wortwitz und Sarkasmus durch die knapp dreistündige Inszenierung und es ist wie immer bei Schnitzler eine wahre Wonne. Kein Satz, kein Bonmot, das bei dem großen österreichischen Dramatiker je langweilig oder belanglos wäre.

Das schönste Zitat des Stücks spricht August Zirner,wenn er Hofreiter als Dr. Aigner die Welt erklärt: „Wir versuchen wohl Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos. Die Seele ist ein weites Land.“

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