tagebook des Münchner Forums

Die Historie war gestern – was geht uns das heute noch an?

Blick Richtung Königsplatz

Das NS-Dokumentationszentrum auf dem Grundstück der früheren nationalsozialistischen Parteizentrale Braunes Haus in der Brienner Straße ist im Bau. Ende nächsten Jahres soll Bezugstermin sein; dann wird mit dem Aufbau der Dauerausstellung begonnen. Wann sie eröffnet werden kann, steht noch nicht fest. So viel ist jedoch klar: Auf knapp tausend Quadratmetern Ausstellungsfläche wird nicht nur die Rolle Münchens im NS-Terrorstaat umfassend thematisiert. In dem rund 20 Meter langen, breiten und hohen Gebäudewürfel wird auch ausreichend Raum für die pädagogische Aufbereitung der NS-Geschichte für die heutige Generation entstehen.

Drei Grundfragen werden die Präsentation durchziehen: Warum konnte sich das NS-Regime gerade in München entwickeln? Wie konnte es dazu kommen? Was geht uns das heute noch an? Diesen drei Fragen wird die künftige Ausstellung in rund dreißig Stationen nachgehen. Der neue Gründungsdirektor Prof. Dr. Winfried Nerdinger, bisher noch Chef des TU-Architekturmuseums und in dieser Funktion unter anderem ein erfahrener Ausstellungsmacher, und der Münchner Historiker Prof. Dr. Hans Günter Hockerts erläuterten dem Forum-Arbeitskreis Kulturbauten am 29. Mai das Konzept des Ende letzten Jahres eingesetzten GründungsteamsGründungsteams, zu dem auch Marita Krauss (Professorin für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg) und Peter Longerich (Professor am Royal Holloway and Bedford New College der Universität London, dort Direktor des Research Centre for the Holocaust and Twentieth- Century History) gehören.

Der vom Standort und von der Architektur des Hauses vorgegebene, aber von der Ausstellungsdramaturgie auch einzulösende Kunstgriff der Präsentation liegt in der Chance, die Historie des Ortes und die Aufbereitung der Geschichte unmittelbar zu verknüpfen. Das meiste von dem, was die Ausstellung zeigen wird, ist nicht irgendwo geschehen, sondern im Umfeld dieses Gebäudes. Von den Fenstern aus kann man Tatorte sehen. Die Ausstellung wird das gezielt inszenieren.

Sie beginnt fast ganz oben, im 4. OG des schneeweißen Würfels. Darüber, im 5. OG, hat das Team um Nerdinger und Hockerts rund hundert Quadratmeter dieses ursprünglich für die Verwaltung reservierten Stockwerks für künftige Besuchergruppen frei gemacht. Hinter Panoramascheiben können diese hier mit Pädagogen das in der Ausstellung Gesehene und das durch die Fenster Sichtbare miteinander in Beziehung setzen. Dieses Kopplungsprinzip wird auch auf den Ausstellungsstockwerken darunter konsequent eingehalten.

Im 4. OG beginnt der ein- bis eineinhalbstündige Rundgang durch die Präsentation. Er wird sich auf etwa die doppelte Zeitspanne verlängern, wenn Besucher die Audioguides nutzen, die auf deutsch oder englisch Zusatzinformation anbieten werden. Wer danach immer noch neugierig und aufnahmefähig bleibt, wird in zwei Untergeschossen nahezu beliebig viel Vertiefungswissen abrufen können. Vieles wird elektronisch aufbereitet. Wer will, wird von dort sogar in den elektronischen Archiven anderer Dokumentationsstandorte (wie etwa dem NS-Dokumentationszentrum in Ludwigsburg) recherchieren können. Die Ausstellung in den Obergeschossen, die im Wesentlichen aus Dokumenten und nicht aus musealen Originalen bestehen soll, wird per Bildschirm auch in dem Untergeschoss zugänglich sein, so dass man dort problemlos vergleichen und nachprüfen können wird.

Rundgang vom vierten bis zum ersten Obergeschoss
in dreißig Stationen

Die eigentliche Präsentation beginnt im 4. OG mit einem drastischen Großbild aus dem 1. Weltkrieg. Er hat die Verwerfungen ausgelöst, die die weitere Geschichte bestimmten. Die einzelnen Stationen dieser ersten Präsentationsrunde lauten Krieg; Revolution; Rätezeit; Gegenrevolution; Die Hitler-Bewegung; Rechtsextreme Ideologie; Der gescheiterte Hitlerputsch 1923; München in den 1920er Jahren; Von der Splitterpartei NSDAP zur Massenbewegung; Der Weg zur Macht in München; Erhebung zur „Hauptstadt der Bewegung“. Immer wieder wird man dabei durch die Fenster das Gewesene und das Heutige in Beziehung setzen können. „Wir stellen uns vor“, sagte Nerdinger, „dass man etwa direkt vor dem Fenster zum Königsplatz auf einem Großbildschirm sehen kann, wie damals die Nazi-Partei auf diesem Platz aufmarschiert ist.“

In dieser Konzeption vermisse er eine stärkere Darstellung der Person Hitler, warf einer der Gesprächsteilnehmer ein. Hockerts widersprach: Wichtiger als das Psychogramm einer Person sei es klarzulegen, welche Verhältnisse Hitler eine Plattform ermöglichten. „Das Entscheidende war“, Hockerts zufolge, „dass er allein entscheiden konnte, ohne demokratische Kontrolle. Also sind die Umstände wesentlich.“ Der Ruf nach der „starken Hand“ sei mindestens so entscheidend gewesen wie diese starke Hand selbst. Darauf werde sich die Ausstellung konzentrieren.

Microsoft Word - Königsplatz mit Braunem Haus.doc

Im 3. OG wird unter dem Motto „Mitmachen – ausgrenzen: Zwei Seiten der ‚Volksgemeinschaft‘“ nachvollziehbar gemacht, wie die NS-Ideologie so viele begeisterte Anhänger gewinnen konnte – mit diesen Stationen: Ende des Rechtsstaats; Formierung der Mehrheitsgesellschaft: Attraktion, Kontrolle, Angst vor Repression; Gegen den Strom: Verweigerung, Opposition, Widerstand; Zugehörigkeit und Teilhabe, Anschluss und Isolation; Hauptstadt der Kunst, Hauptstadt des „schönen Scheins“; Der Bau der „Hauptstadt der Bewegung“; Die Stadt als Kulisse: Das Münchner Abkommen; Totenkult und Ehrentempel; Eskalation der Gewalt. Wieder wird der Besucher das damals Geschehene und dessen mehr oder minder richtige Bewältigung vor und hinter den Scheiben vergleichen können, etwa wenn sein Blick von den Dokumenten auf die verwachsenen Fundamente der früheren Ehrentempel fällt, über die man nach 1945 buchstäblich Gras wachsen ließ. Das 3. OG schließt dann mit den Stationen Kriegsbeginn: Mobilisierung, Radikalisierung, Ausgrenzung; Rassistischer Vernichtungskrieg nach innen und außen sowie mit einer Station zum Leitthema Mitmachen – ausgrenzen: „Zwei Seiten der ‚Volksgemeinschaft‘“.

Das 2. OG thematisiert „München im Krieg – Die innere Front“. Seine Stationen sind Rüstung und Zwangsarbeit; Der Krieg kommt in die Stadt; Alltag im „totalen Krieg“; Zivilcourage und Widerstand; Mord und Terror bis zum Ende; Befreiung Dachaus und Besetzung Münchens; Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nach 1945; Angeordnete Entnazifizierung; Re-Demokratisierung und Re-Education; Wiederaufbau und Neutralisierung; Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach 1949; Verdrängung – Nachleben – Wiederaufleben.

Im 1. OG bleibt wegen der relativ beengten Raumverhältnisse – dort soll es zusätzlich Platz für Wechselausstellungen geben – nur noch Raum für fünf letzte Stationen unter dem Leitmotiv „Die verzögerte und verschleppte Erinnerung im öffentlichen Raum“. Nerdinger ließ offen, ob diese Stationen auf längere Sicht ins 2. OG integriert werden könnten. Dass müsse davon abhängen, welche Bedeutung und welchen Umfang die Wechselausstellungen einnehmen würden. Die Aufarbeitung der NS-Geschichte sei ja keineswegs abgeschlossen; die Wechselausstellungen hätten die Fortschritte in der Vergegenwärtigung dieser Geschichte mit zu reflektieren.

Ist die erlebte Geschichte „in der Historisierung angekommen“? Ja, urteilt Hockerts

Blick Richtung Königsplatz

Noch leben Zeitzeugen, für die die NS-Vergangenheit mehr ist als ein Thema der Geschichtsbücher, nämlich Teil ihres eigenen Schicksals. An sie erinnerte Wolfgang Czisch mit seiner Frage nach der Historisierung. Der Historiker Hockerts, die jüngere Generation im Blick, konnte sie nur bejahen. Auch die Wiedergutmachung werde thematisiert. Und Zugriffe auf Materialien anderer Dokumentationsorte würden ohnehin möglich gemacht. In der weiteren Aussprache lobten die Gesprächsteilnehmer des Arbeitskreises die vorgestellte „beachtliche Dramaturgie“. Dass in ihr ein „Raum der Stille“ keinen Platz haben wird, hängt wieder mit der Begrenztheit und zugleich Offenheit des Hauses und erwarteten 200.000 bis 300.000 Besuchern jährlich zusammen. Es gibt solche Orte aber in direkter Umgebung, beispielsweise in der Basilika St. Bonifaz. Vergleichsweise still werde es auch im rund 250 Quadratmeter großen Studiensaal des ersten Untergeschosses zugehen, erwartet Hockerts.

Das NS-Dokumentationszentrum will in erster Linie den Kopf ansprechen, weniger das Gemüt. Emotionalisierende Bilder wird man sehr sparsam einsetzen. Auf Analogien zur Gegenwart will man ganz verzichten. Die solle der Besucher selber entwickeln. Geschichte wiederhole sich ja nicht, auch wenn Grunderfahrungen wie der Ruf nach einer „starken Hand“ oder rassistische Töne auch heute noch oder gar wieder zu hören seien. Gerade deshalb plant das Zentrum einen ausgedehnten pädagogischen Bereich. Zwei Personen für diese Aufgabe sind bereits jetzt mit an Bord, weitere werden folgen. Für diese dialogische Aufbereitung wird es insgesamt acht Gruppenräume geben, deutlich mehr als ursprünglich geplant. Wie wesentlich solche Möglichkeiten zu Aussprachen sind, zeigt das Dokumentationszentrum auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, dem Feriendomizil Adolf Hitlers und anderer NS-Größen. Weil man diesen Bedarf erheblich unterschätzt hatte, wird dafür dort derzeit ein eigenes Gebäude errichtet. Eine Art Schulhaus dürfe das aber auf keinen Fall werden. Das ist auch für das Münchner Zentrum nicht geplant. Es gehe vielmehr darum, die Gäste – auch die Schüler – zu aktivieren und zum eigenen Tun zu ermuntern. So haben Schüler schon jetzt für das erst in seinen Grundmauern fertige NS-Dokumentationszentrum jugendgerechte Audioguide-Inhalte entwickelt.

Was sollen Besucher schlussendlich mitnehmen, wenn sie dieses Zentrum künftig besuchen? Wenn sie sich fragen: Was hättest Du getan? Wolfgang Czisch wagte eine Antwortprognose: „Die meisten dürften wohl sagen: Ich wäre nicht zum Helden geboren.“ Wohl wahr, konterte Hockerts, aber es gehe gerade darum deutlich zu machen, dass zwischen Wegsehen, Helfen und konkretem Widerstand viele Möglichkeiten zum Reagieren bestünden, damals wie heute. Die Weimarer Zeit, aus der die NS-Diktatur hervorging, sei ein Laboratorium unterschiedlichster gesellschaftlicher Entwicklungen gewesen, turbulenter als die Welt heute. Es gelte klarzumachen, dass der Einzelne stets Handlungsspielräume hatte, und es gelte zu zeigen, was er tun, aber auch unterlassen konnte, ohne sich selbst zu gefährden. Hockerts zeigte sich noch immer erstaunt, wie Deutschland damals von höchstem kulturellen und wissenschaftlichen Niveau, von dem zahlreiche Nobelpreise kündeten, binnen kürzester Zeit in die Barbarei zurückfallen konnte. Es gelte daher zu zeigen, wie Attraktionen Menschen verführen und pervertieren können, wenn sich ein System von den Menschen- und Bürgerrechten löst. Darüber gelte es das Nachdenken anzuregen.

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