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Ehrensache auf Gleis 11

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In der Münchner Bahnhofsmission öffnet sich die Tür 365 Tage im Jahr für Reisende und Gestrandete. Auf sie warten Hilfe, Trost und manchmal Herr Schulz. Eine Reportage.

Wenn Gerhard Schulz aus dem Fenster blickt, sieht er das schöne Leben. “Le Méridien” steht in großen Lettern an dem wuchtigen, gelben Gebäude auf der anderen Straßenseite. Eine Nacht im billigsten Zimmer des Sternehotels kostet 149 Euro, in den eigenen Gourmetrestaurants gibt es die passende Küche. Bei Gerhard Schulz in der Bahnhofsmission gibt es Brote mit Schweineschmalz oder Margarine. Sie warten, in durchsichtigen Plastikkisten gestapelt, in der kleinen Küche genau wie die klobigen Teekannen mit Pfefferminz-Hagebuttentee.

Seit sieben Jahren arbeitet Herr Schulz als Helfer von 19 Uhr bis sieben Uhr morgens in der Bahnhofsmission am Münchner Hauptbahnhof. Es sind gerade die Abenden und Wochenenden, an denen sie dringend gebraucht werden, Leute wie Gerhard Schulz. Wie andere soziale Einrichtungen ist die Bahnhofsmission auf Ehrenamtliche angewiesen. Von den 139 Mitarbeitern sind 109 Ehrenamtliche, fast achtzig von ihnen arbeiten sogar ohne Aufwandspauschale. Herrn Schulz hat eine Anzeige im Kirchenanzeiger auf die Arbeit aufmerksam gemacht. „Am Anfang habe ich alle Dienste einmal durchprobiert“, erzählt er. Geblieben ist er bei der Nachtschicht. “Nachtschicht, das ist erste Hilfe”, sagt Herr Schulz.

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Gerhard Schulz/ Bahnhofsmission

Es ist Sonntag Abend am Münchner Hauptbahnhof: Draußen rattern hunderte Rollkoffer über den glatten Fliesenboden. Das Klackklackklack erfüllt die Halle. Am Gleis 5 fährt der Zug aus Rimini ein. Innen streckt der weißhaarige Kollege, Anton Hörmann, der “Toni” genannt wird, seinen Kopf in die Küche, fragt: “Was machen wir mit dem Zwei-Zentner Mann? Der liegt schon seit einer halben Stunde da.” Auf der Wartebank im Flur hat sich der Mann unter dem bunten Holzkreuz ausgestreckt und schläft. Es ist der Moment, in dem Gerhard Schulz sich die blaue Plastikweste mit dem Bahnhofsmissionskreuz, die Uniform, über sein schwarzes Hemd streift. “Gehts Ihnen gut?”, fragt er den benommenen Mann, der sich widerwillig aufrichtet, etwas lallt. Ein paar Minuten später ist er verschwunden. Alltag in der Bahnhofsmission.

Auf Gleis 11 hängt das kleine gelbe Schild, auf dem das Wort in blau geschrieben ist. Das Kreuz ist fester Teil des Logos. Träger der Münchner Bahnhofsmission sind der Verein IN VIA Katholische Mädchensozialarbeit und das Evangelische Hilfswerk.

“Das Besondere an der Bahnhofsmission ist, dass sie einfach bunt ist”

Auch in Gabriele Ochses Büro am Ende des engen Ganges hängt ein kleines Kreuz. Sie ist eine der beiden Leiterinnen der Bahnhofsmission. Viele der Helfer sind aus religiösen Motiven zur Bahnhofsmission gekommen – Katholiken genauso wie Protestanten und Muslime. Ausschlaggebend ist die Religion aber nicht für jeden. Andere sind nicht in der Kirche aktiv, machen die Arbeit aufgrund persönlicher Erlebnisse. “Das Besondere an der Bahnhofsmission ist, dass sie einfach bunt ist”, sagt Frau Ochse.

Ist Gerhard Schulz religiös? „Nein, nein“, sagt er und schüttelt den Kopf, „oder doch?“. Er hat ein Lächeln, das auf das Gesicht des 70-Jährigen genauso gezeichnet ist wie die Falten in seinen Augenwinkeln. Der leicht österreichische Akzent verleiht ihm etwas Amüsiertes. Mit dem Studenten Enrico Tolus und dem ehemaligen Versicherungsangestellten und Urbayern Anton Hörmann teilt sich Gerhard heute die Aufgaben. Hilfe in allen Lebenslagen, Beratung, Brot und Tee und die Hilfe beim Umsteigen, sind ihr Angebot an die Klienten.

Alle paar Monate ein Anliegen

Acht Uhr, es ist Essensausgabe. Hinter der Theke hat Herr Hörmann das Buffet aufgebaut: Brote, Tee und ausnahmsweise Kuchen, der von einer Veranstaltung noch übrig ist. Der kleine Aufenthaltsraum neben der Eingangstür hat sich mit Leuten gefüllt. Auf der Wartebank unterhalten sich angeregt zwei ältere Damen in einer osteuropäisch klingenden Sprache, andere haben an den hellen Tischen Platz genommen. Ein junger, glattrasierter Mann im Trachtenjanker sitzt dort vor einer aufgeschlagenen Zeitung, trinkt aus einer der bunten Plastiktassen. Früher habe der Mann erzählt, sagt Gerhard Schulz, er sei Student. Was der junge Mann wirklich macht, hat Herr Schulz nie erfahren. Dabei sitzt der angebliche Student oft an einem der Tische. Ein Dauergast. Achtzig Prozent der Klienten, schätzt Gerhard Schulz, kommen regelmäßig. 95 Prozent derer, die tagtäglich durch die Türe am Gleis 11 gehen, haben “besondere soziale Schwierigkeiten”, das besagen Zahlen aus der Statistik der Bahnhofsmission.

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Gerhard Schulz/ Bahnhofsmission

Manchmal beginnt die Hilfe schon mit einem Telefonat. Auch heute. “Ich habe alle paar Monate ein Anliegen”, sagt der ältere Mann, als er das Büro 1 betritt. Karos bedecken sein Sakko, seinen Anglerhut. Die Brille mit den orangen Gläsern erinnert an die Siebziger, das Alter in dem er sich vermutlich auch befindet. Aus seiner Sakkotasche kramt er einen sorgsam gefalteten Notizzettel einer ellenlangen Telefonnummer hervor. Mit den Worten “Dann bekomme ich 15 Mark raus”, legt er noch einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Tischplatte. Er besteht darauf.

Wählen muss der Helfer, die Augen des Klienten sind zu schlecht. Später wird der Sakkoträger noch von seiner Arbeit, von seinem Haus, der Krankheit, die die Augen getrübt hat, erzählen. Gerhard Schulz hört geduldig zu, fragt nach. Er ist einfach da im kleinen Büro mit der Nummer eins. “Ich reiße in der Nacht keine Bäume aus”, gibt er später zu. „Es geht darum, die Menschen zu beruhigen.“ Auch wenn es schlimm wird.

Katastrophe kurz vor zehn

Heute kommt die Katastrophe kurz vor zehn Uhr. “Ich möchte eine Person vermisst melden”, sagt der junge Mann noch bevor er das Büro betreten hat. Er wirkt müde, die Augen sind glasig. Es geht um seine Freundin, die im Drogenrausch verschwunden ist. Mit der Hand umklammert er noch ihren weißen Rucksack. Er hat ihn auf den Gleisen gefunden, genau wie die Jacke, die er wie zum Beweis hochhält, ihr Handy. “Ich suche schon seit ein Uhr, ich weiß nicht mehr was ich machen soll”, sagt er. Ãœberall sei er schon gewesen, auch bei der Polizei. Viel kann Gerhard Schulz nicht machen. Er beruhigt, rät noch einmal zur Polizei zu gehen. “Wenn Sie wollen, kann ich mitgehen”, bietet er an. Die Beschreibung der Freundin notiert er. Nur für den Fall. Zum Abschied beugt er sich über den Schreibtisch, gibt dem jungen Mann die Hand, sagt: “Ihre Geschichte berührt mich sehr.”

Noch Minuten sitzt Gerhard unbeweglich in seinem Stuhl, den Blick auf die Tür gerichtet, durch die der Mann verschwunden ist. „Drogen, das ist das schlimmste, da bist du machtlos“ sagt er und atmet tief ein. Auf einmal ist es still in der Bahnhofsmission. Draußen räumen die Kollegen gerade die Tische nach der Essensausgabe ab. Die Klienten hat die Nacht wieder geschluckt. Nur die Plastiktassen in rot, gelb und blau sind geblieben, stapeln sich in der Spülmaschine. Noch einmal schiebt Anton Hörmann seinen Kopf in die Küche. Ein kurzes „Pfiats Euch“, dann sind Herr Schulz und Enrico Tolus allein.

Aus dem Küchenradio dudelt leise Musik. Die Bahnhofsmission ist jetzt nur für diejenigen offen, die die Klingel vor der Glastür drücken. Um zwei Uhr werden Gerhard Schulz und Enrico Tolus dann ihre Klappbetten im Büro und der Garderobe aufstellen. Das Elend aber kennt keinen Schlaf, klingelt an die Tür. Der Aufenthaltsraum wird in der Nacht zum Zufluchtsort für verzweifelte Frauen. Zwischen umgedrehten Stühlen suchen sie mit Iso-Matten und Decken Schlaf. Zusammengesunkene Gestalten, junge, alte Gesichter, und geschundene Füße sehen dann Helfer wie Gerhard Schulz.

Eigentlich lebt der ehemalige Lehrerbildner weit weg von der Großstadt, in der Nähe von Rosenheim, in einem kleinen Reihenhaus. Ein Stück Bahnhofsmission gibt es auch hier. „Zum Zug kommen“, steht auf einem Bild mit einer Lokomotive im Gang. Am Tag macht der rüstige Rentner historische Führungen, spricht in Vorträgen über Sissi und das Lied „Stille Nacht“. Für die Arbeit in der Bahnhofsmission fährt er eine Stunde mit dem Zug zum umtriebigen Großstadt-Bahnhof. Zwei Welten. Manchmal vermischen sie sich.

“Sie kennen aber Leute”

„Einmal war ich mit einer Gruppe beim Residenztheater und dann hat einer der Klienten vom Weiten geschrieen, “Hallo Schulz.” “Sie kennen aber Leute”, soll daraufhin ein Besucher gesagt haben, und Gerhard Schulz muss schmunzeln. Es ist eine von vielen Geschichten, die er erzählen kann. Den Grund, wieso er eine Aufgabe im Ehrenamt gesucht hat, will er nicht geschrieben wissen, spricht von einer persönlichen Krise. Seine Stimme ist dabei leise, der Blick in die Weite gerichtet.

Schon viele Jahre ist der Rentner, Vater und Großvater, alle zwei Wochen Herr Schulz von der Bahnhofsmission. Einmal, so erzählt er noch spät nachts in der Küche der Mission, habe er überlegt aufzuhören. Vor einem Jahr, als die Leiterinnen wechselten. Getan hat er es nicht, aber er ist kürzer getreten. Noch zwei, drei Jahre wird der 70-Jährige Herr Schulz von der Nachtschicht sein. Danach soll Schluss sein.

Es ist jetzt halb elf, da hört man ein vorsichtiges „Hallo?“. Ein junger Mann mit zotteligen, langen Haaren und Ledermantel steht unschlüssig im Gang. Er braucht sechs Euro und zwei Cent für den Zug. Mit einer Tasse Tee setzt sich der Mann auf die Wartebank. Er trägt keine Socken, eine große Schramme zieht sich unter seinem Auge. Draußen schlucken Taxis die Koffer der letzten müden Reisenden. Gerhard Schulz aber bleibt bis zum nächsten Morgen. „Du gibst etwas, und die Arbeit gibt dir auch etwas“, sagt er über sein Ehrenamt. Dieses Mal ist es ein bayerisch intoniertes „Mit Dank zurück“, mit dem der junge Mann die leere Tasse abgibt, bevor er in der Nacht verschwindet.

Am nächsten Morgen werden andere Menschen an der Stelle von Herrn Schulz in der Mission warten, warten bis die nächste Katastrophe kommt, oder einfach nur jemand nach einer Tasse Tee fragt.

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