Nach(t)kritik, Stadt

Ein grauenhafter Abend

Salvan Joachim
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Bedrückendes Fremdschämen in der Münchner Reithalle: Das Publikum feiert Thilo Sarrazin und verhindert eine sachliche Debatte. Eine Nachtkritik und ein Youtube-Video.

„Es ist die Technik eines Kleinbürgers, der versucht mit einer ungeordneten Welt klarzukommen.“ Armin Nassehi, LMU-Professor für Soziologie, äußerte gegen Ende seines Eingangsstatements diese zuvor begründete Kritik an Thilo Sarrazin. Das war dem Münchner Publikum endgültig zu viel. Buhrufe und Beschimpfungen wie „Oberlehrer“ wurden Nassehi an den Kopf geworfen.

Die meisten Münchner Zuhörer hatten sich sehr früh entschieden: Hier sollte nicht stattfinden, was eigentlich Ziel der Veranstaltung war. Das Literaturhaus München lud Thilo Sarrazin, Nassehi und den Chefredakteur vom Handelsblatt, Gabor Steingart, zur Diskussion. Keine klassische Lesereise, aber Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ ist ja auch kein alltägliches Buch.

Brandstifter werden angefeuert

Reinhard Wittmann, Leiter des Literaturhauses, betonte zu Beginn, dass es Zeit wäre, die erhitzten Gemüter der letzten Woche abzukühlen. Man wolle nun eine Debatte führen, die sich der Sache widmet.

Daraus wurde nichts. Und es lag nicht nur an Thilo Sarrazin. Der Großteil der Besucher wollte Sarrazin feiern. Nicht für seine Bereitschaft, durch eine Diskussion zur konkreten Politikgestaltung beizutragen, sondern für plakative und provokative Floskeln. Die Kritik Steingarts am Ton seines Buches fegte er mit dem Hinweis beiseite, dass Journalisten ja ohnehin für nichts Experten seien. Was in einer sachlichen Diskussion als vollkommen Fehl am Platz hätte erscheinen müssen, ließ große Teile des Publikums aufspringen, frenetisch klatschen und jubeln.

Muss man derartige Veranstaltungen boykottieren, obwohl sie doch eigentlich zur konstruktiven Diskussion und Meinungsbildung beitragen sollen? Viele Münchner haben wohl bewusst die Veranstaltung gemieden. Aber so entstand eine Plattform für Sarrazinanhänger, die sich gegenseitig in ihrer Begeisterung anfeuerten.

Die Stimmung des Saals steigerte Sarrazins Freude an Polemik. Die Sorge, dass sich die österreichische Partei FPÖ seine Thesen auf die Fahnen schreibt, quittierte er mit dem bekannten Sarrazin-Lächeln und dem Satz: „Die FPÖ kenne ich nicht.“

Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Der Abend machte traurig und ärgerlich. Anfeuerungsrufe und Ausbuhen – das war Fußballfeeling und kein inhaltliches Interesse an einer Integrationsdebatte. Und das von einem Publikum, das durch sein hohes Durschschnittsalter bisher nicht mit den Etiketten „Politikverdrossenheit“ und „Spaßgesellschaft“ versehen wurde. Eine Generation, die es eigentlich besser wissen müsste. Das befremdete auch Armin Nassehi zum Ende der Veranstaltung: „Die Resonanz des Publikums ist vielleicht ein noch größeres Problem als der Ton des Buches.”

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