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Eine Geschichte aus München: “Ich habe meine Seele verloren”

Irakische Flüchtlinge bekommen in Deutschland kein Bleiberecht. Die Geschichte einer Frau, die in München mit eingeschränkten Rechten in zermürbender Ungewissheit lebt.

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Gefängnis in Freiheit

Frau Pakhschan Talib Muhamad ist gefangen. Ihr Gefängnis hat keine Gitter, keine Mauern und keinen Stacheldraht. Muhamad ist nicht eingesperrt, trotzdem fühlt sie sich, als wäre sie es: „Ich habe in Deutschland meine Persönlichkeit verloren. Ich habe meine Seele verloren. Im Irak war es schwer, aber meine Seele war eine freie Seele. Hier bin ich in einem Gefängnis.“ Das Gefängnis hätte sie fast das Leben gekostet.

München, im Winter. Menschen drängen sich durch die Innenstadt, sie tragen Tüten von Kaufhof, Karstadt, H&M und Hugendubel. Durch das Konsumwirrwarr zieht ein kleiner Demonstrationszug Richtung Odeonsplatz, vor das Bayrische Innenministerium. Etwa 150 Irakerinnen und eine Hand voll Deutscher sind gekommen. Muhamad, 47 Jahre alt, läuft mit, um ihrer Gefangenschaft ein Ende zu bereiten. Sie friert, trotz ihres Wintermantels und des Schals, den sie um ihren Hals geschlungen hat. Man sieht jeden ihrer Atemzüge als Wölkchen vor ihrem wie immer akkurat mit Lidschatten, Wimperntusche und Lippenstift geschminkten Gesicht. In der Hand trägt sie ein Schild: „Wir können nicht länger warten! Ein Bleiberecht für uns und unsere Kinder!“

Muhamad weiß nicht, ob die Demonstration etwas bewirken wird. Sie kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, was nach dem 14. Juli passieren wird. Dieses Datum steht auf ihrem Ausweis, den sie immer in ihrem Lederportemonnaie dabei hat. In der Zeile über ihrem Namen und dem Datum ist in fetten schwarzen Buchstaben der Schriftzug  „Aussetzung der Abschiebung (Duldung)“ auf das Ausweispapier gedruckt. Quer über die Seite verläuft ein dicker roter Strich, auch über ihren Namen. Muhamad sagt: „Das tut weh. Dieser Strich. Das macht meine Seele krank.“ Wie immer, wenn sie von ihrer Seele spricht, presst sie die Hände auf ihre Brust.

Die Bomben unterscheiden nicht

Am Sommer wird Muhamad wieder zum Kreisverwaltungsreferat (KVR) gehen, um ihre Duldung für weitere drei Monate verlängern zu lassen, zum 30ten mal seit Dezember 2002, als sie illegal nach Deutschland kam. Wie die anderen 2023 Iraker und Irakerinnen, die laut Innenministerium in Bayern leben (Stand Juni 2009), bekommt Muhamad keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Für die deutschen Asylbehörden ist seit dem Sturz Saddam Husseins die Gefahrenlage für Iraker in ihrer Heimat offiziell beendet. Einer Kurdin wie Muhamad  droht keine Verfolgung mehr, nur irakische Christen und Yeziden bekommen ihre Asylanträge in der Regel bewilligt. Die Bomben, die in Muhamads Heimatstadt Kirkuk ständig explodieren, unterscheiden nicht zwischen Religionszugehörigkeit. Sie töten jeden, der zufällig in der Nähe ist, wenn sie explodieren. Die Regierung kann Muhamad deshalb nicht abschieben, aus „humanitären Gründen“, wie es im Beamtendeutsch heißt. Daher der rote Strich, daher die Aussetzung der Abschiebung, die Duldung, immer nur für wenige Monate. Sie kann nicht nach Hause, darf aber auch in Deutschland nicht frei leben. Diese Situation ist ihr Gefängnis.

Muhamad sitzt auf der Couch, im Wohnzimmer ihres Bruders in einem achtstöckigen Häuserblock eines Münchner Vororts. Ihr Bruder ist schon seit 1997 hier, er floh, als Saddam Hussein noch an der Macht war. Inzwischen ist er deutscher Staatsbürger. Sie deutet aus dem Fenster, durch das die Mittagssonne warm hereinflutet. „Da hinten ist Österreich“, sagt sie. „Aber ich kann nicht hin.“ Als geduldeter Mensch muss sie sich sogar beim KVR eine Genehmigung holen, wenn sie ihre Cousins in Köln besuchen will.

Sie lebt in der Zweizimmerwohnung ihres Bruders. Eine eigene Bleibe kann sie sich nicht leisten. Er hat ihr sein Bett überlassen und schläft im Wohnzimmer, auf der zweiten Couch am Fenster. Im Irak hat Muhamad 1988 ihr Diplom als Agraringenieurin gemacht, danach 12 Jahre als Feldmanagerin ihrer Heimatstadt Kirkuk gearbeitet. Jetzt geht sie putzen.

Bald wird ihr Bruder heiraten – was passiert dann?

Die Reinigungsfirma ruft an, wenn sie Muhamad braucht. Ihr Einkommen schwanke stark, sagt sie: „Manchmal habe ich 600 Euro im Monat, manchmal 200.“ Sie könnte mehr verdienen – wenn sie dürfte. Sie nimmt eine Mappe vom Couchtisch, klappt sie behutsam auf und breitet einen Stapel Papiere vor sich aus. Zeugnisse von Sprachkursen, Zertifikate von Weiterbildungen: Ein Qualifizierungskurs im Bereich Gesundheit, ein Dolmetscherkurs im Zentrum für Transkulturelle Medizin, einer im Haus der Nationen der Caritas. Unter den Papieren ist auch ein Schreiben, in dem die Caritas zusagt, sie als Dolmetscherin zu beschäftigen, für 18 Euro pro Stunde, als selbstständige Arbeitskraft. „Aber ich kann nicht annehmen“, sagt Muhamad mit unterdrückter Wut. „Ich darf nicht selbstständig arbeiten, wegen der Duldung.“

Bald wird ihr Bruder heiraten. Seine Frau wird bei ihm einziehen. Muhamad freut sich für ihn, aber ihre leicht raue  Stimme wird brüchig, wenn sie laut über die Folgen nachdenkt: „Er muss sein Leben leben, mit seiner Frau. Wohin gehe ich dann?“

In Bayern müssen Asylbewerber und Geduldete grundsätzlich in Sammelunterkünften wohnen. Wer eine eigene Wohnung suchen will, muss dies beantragen und selbst finanzieren. In die Asylunterkunft in Dachau, wo Muhamad anfangs wohnte, will sie auf keinen Fall zurück.

Sie lebte in der Holzbaracke hinten rechts, in der, die jetzt grün angestrichen ist. Zu ihrer Zeit war das Holz noch dreckig und braun. Auch den asphaltierten Weg, der sich durch die fünf langgezogenen Flachbauten schlängelt, gab es nicht. Bei Regen verwandelte sich der Boden in einen Sumpf aus Schlamm und Pfützen. Einmal bekam Muhamad Besuch von einem Cousin und einer Cousine. Die hatten sich vorher die Gedenkstätte des Dachauer Konzentrationslagers angeschaut, erzählt Muhamad: „Sie haben gesagt, hier sieht es genauso aus. Ist wie drüben bei Hitlers Ofen.“

Durch die Wände hört man jedes Wort

Im Inneren der Baracken hat sich nicht viel verändert, seit Muhamad das Lager verlassen hat. Die Zimmer sind winzig, vielleicht acht Quadratmeter für zwei Personen, zwischen den Betten kann man kaum einen Schritt machen. Im Gang stehen Kinderwägen, abgetragene Schuhe, Plastiktüten, aus denen Wäsche quillt. Durch die Wände hört man jedes Wort. 165 Menschen leben hier momentan. Still ist es nie. In den Gemeinschaftstoiletten stinkt es wie auf den Aborten des Oktoberfests, in den Duschräumen mit Fliesen, die wohl mal weiß waren, hängt kalte Feuchtigkeit. In der Gemeinschaftsküche stehen Arbeitstische aus Stahl an den Wänden, darauf eine Mikrowelle und zwei Elektroherde. Ansonsten ist die Küche leer.

Nach fast vier Jahren hielt Muhamad es in Dachau nicht mehr aus. Ihr Bruder nahm sie auf, damals noch in seiner Einzimmerwohnung. Trotzdem musste sie zweimal pro Woche in die Asylunterkunft fahren. Denn Geduldeten werden ihre Sozialleistungen nicht bar ausbezahlt. Außer 40 Euro Taschengeld im Monat bekommen sie alles in Paketen in die Heime gebracht. Einmal monatlich ein Hygienepaket mit Seife, Duschgel und Shampoo. Zwei Mal wöchentlich ein Essenspaket, auf einem grünen Din-A4-Zettel können sie vorher Kreuzchen machen und zwischen verschiedenen Speisen wählen, Hühnerschenkel, Putenfleisch, Fischfilet, Schweinefleisch. Die gleichen Tiefkühlpackungen, jede Woche, das ganze Jahr. Muhamad setzte sich jeden Dienstag und jeden Donnerstag in die S2, fuhr nach Dachau und ging 20 Minuten zu Fuß zum Lager, vom Bahnhof durch den Ort, vorbei am Gewerbegebiet, über eine schlaglöchrige Straße und den Trampelpfad durch die Felder.

So hatte sie sich ihr Leben in Deutschland nicht vorgestellt, als sie sich im Sommer 2002 entschloss, ihrem Bruder nach Deutschland zu folgen. Vier Monate war sie auf der Flucht. Sie saß zwischen Kisten in LKW, die sie durch den Iran und die Türkei brachten, kam mit dem Schiff nach Griechenland, von dort wieder in LKW nach Deutschland, über Wege, die sie selbst nicht kennt.

“Ich weiß nicht, wer ich bin”

Dann die Enttäuschung: „Seit 7 Jahren habe ich keinen Fehler gemacht in diesem Land“, sagt Muhamad. „Ich wollte mich integrieren.“ Hinter der Tür im Wohnzimmer steht eine Sporttasche. Sie ist voller Deutschbücher. Neben der Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch liegt ein gelbes Wörterbuch, Arabisch-Deutsch. Ihre Stimme wird lauter und noch etwas rauer als sonst: „Ich habe keine Schuld. Ich wollte nur einen besseren Platz zum Leben. Aber wo ist meine Freiheit? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich morgen tun werde. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich kann mich nicht entwickeln.“

Stattdessen entwickelte sich in ihr etwas: Zukunftsangst, körperliche und mentale Erschöpfung, Verzweiflung – das, was sie meint, wenn sie von ihrer kranken Seele spricht.

An einem Sonntag im September 2008 kam der Nervenzusammenbruch. Sie arbeitete noch im Internetcafé ihres Bruders. Von 10 bis 23 Uhr, wie jeden Tag. Der Laden lief schlecht, es war klar, dass er ihn würde schließen müssen. Sorgen, Verzweiflung, Tränen. Am Abend ging sie ins Schwabinger Krankenhaus. Der Allgemeinarzt dort konnte ihr nicht helfen. Er gab ihr zwei Schmerztabletten und schickte sie weg, erzählt sie mit zitternder Stimme: „Er hat hart mit mir gesprochen.“ In den Laden wollte sie nicht zurückgehen. Zu ihrem Bruder auch nicht. Irgendwie gelangte sie in eine U-Bahnstation. Wohl zwei Stunden saß sie da. Sie dachte schon, erzählt sie und ist vor Schluchzen kaum noch zu verstehen, „dass ich mich unter die U-Bahn wegschmeiße.“ Es war eine Gruppe von Kindern, die sie davon abhielt: „Ich konnte nicht so einen schweren Unfall in so viele Kinderköpfe geben. Diese Kinder sollten nicht auch Opfer werden.“

Muhamad nimmt ein Kleenextuch aus der Packung auf dem Wohnzimmertisch. Sie tupft sich die Tränen aus den Augen, atmet tief durch. Sie blickt aus dem Fenster, dem Fenster ohne Gitter, das trotzdem das Fenster einer Gefangenen ist.

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