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Schorsch Kamerun bittet zur Utopie
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Stell dir vor, jemand würde heute zur Revolution aufrufen. Würdest du ihn beachten? 90 Jahre nach Scheitern der Münchner Räterevolution gibt es wieder Rebellionsparolen. In den Kammerspielen wurde das „Konzert zur Revolution“ von Schorsch Kamerun uraufgeführt. Eine Premiere und ein paar offene Fragen.
Riesige Augen starren von der Leinwand in den Zuschauerraum. Es sind die Augen von Josef Bierbichler. Und der schimpft auf die „ostentativen Individualisten“. Ihr Experiment – die „vegetarische Liga“ in Italien – ist gescheitert. Die Vorhangwand fährt hoch, das Revolutionsorchester betritt die Bühne. Die Musiker tragen lange Bärte, lange Haare. Das Konzert beginnt. Ein Bratscher muss aufpassen, dass sein übergroßer Schnauzbart nicht zwischen die Saiten kommt. Als Steven Scharf sich ans Mikro stellt, wechselt die Musik. Gerade hätte sie noch von Schostakowitsch sein können (tatsächlich aber hat Carl Oesterhelt sie komponiert), jetzt ist sie ein bloßes, reibendes Klangbett für Karl Marx. „Die Geschichte tut nichts. Sie besitzt keinen Reichtum. Die Geschichte kämpft keine Kämpfe. Sie ist keine Person.“
Josef Bierbichler, zurzeit in „Das weiße Band“ zu sehen, sitzt an einer Bierbank, zusammen mit den Arbeitern und mit Schorsch Kamerun, dem Sänger der Punkband „Die Goldenen Zitronen“. Er ist in München, insbesondere bei den Kammerspielen, kein Unbekannter. Beim „Konzert zur Revolution“ führt er Regie. Und spielt. Und singt Oskar Maria Graf: „Größer als ihr alle, ist der Hund, Der weitertrippelt, bellt, wenn’s ihm gefällt, Frisst, wo etwas liegt Und weder Zeit, noch Gott, noch Vaterland Und sonst etwas achtet.“
Graf war – genau wie Ernst Toller und Erich Mühsam – einer der Großen in der Münchner Räterepublik und sie waren 1919 dabei als Bayern ein Freistaat wurde, als eine Gruppe von Literaten, Künstlern und Freidenkern versuchte, ihre Vorstellung eines anarchistischen Systems umzusetzen. Ihre Texte werden jetzt beim „Konzert zur Revolution“ vorgetragen. Wussten sie, was sie wollten? Hinter einer Leinwand, als Schatten, diskutieren die Darsteller über ihre Revolution. „Auf keinen Fall gibt es freie Wahlen. Eine Revolution braucht eben Zeit.“ Niemand stimmt zu, aber richtig widersprechen, das tut auch keiner.
Die Räterepublik war nur von kurzer Dauer. Nach knapp einem Monat wurde sie niedergeschlagen. Auch im Theater könnte es leicht passieren, dass man die Räterepublik verpasst: Die Trompete bläst zum Kampf. Und plötzlich hängen überall rote Tücher und Plakate mit der Aufschrift „Der neue Mensch“. Genauso schnell kommen die Bühnenarbeiter und hängen wieder alles ab. Wenn danach Wiebke Puls im roten Glitzerkleid Tucholsky singt („Das sind doch alles Kleidermoden: der Ärmelschmuck und wie das heißt… Man stellt sich einfach auf den Boden der neuen Welt – im alten Geist.“) und das Schlagwerk unter den vollen Streicherklang einen gefälligen Rhythmus darunter legt, klingt es kurz nach Musical. Doch die Musik wird schnell ungemütlich. Am Ende brüllen Puls und Schorsch Kamerun zusammen ins Mikrofon: „Ha ha ha!“ Lachen sie, um ihre Verzweiflung zu vertreiben? Lachen sie über die gescheiterte Revolution? Über diejenigen, die an den neuen Menschen glauben? Über das Publikum, dem die Revolution im Theater noch ganz recht ist – aber sonst?
Am Ende fährt wieder die Leinwand herunter. Dieses Mal ist Schorsch Kamerun zu sehen, auf dem Marienplatz, im beigen Gewand. Ein Revolutionär? Ein Irrer? Jedenfalls beachtet ihn niemand. Alle gehen vorbei. Warum sollte man stehen bleiben? Müssen wir Angst haben vor einer Revolution? Können wir auf eine Revolution hoffen? Gibt es keine Alternative zum Bestehenden? Auf dem Marienplatz kniet Schorsch Kamerun nieder und fleht die Leute an: „Ich will mit euch eine Bewährung der Utopie!“
Konzert zur Revolution (Regie: Schorsch Kamerun)
28. Oktober, am 2., 9., 18. und 24. November in den Kammerspielen
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