Kultur, Nach(t)kritik

The Prodigy – Sensorische Ãœberforderung

Sebastian Gierke
Letzte Artikel von Sebastian Gierke (Alle anzeigen)

Hin und wieder fällt einer heraus. Zerknautscht, nass. Als hätte ihn dieser gewaltige, wogende, sich immer wieder aufbäumende Organismus ausgespuckt. The Prodigy waren in München.

Kurz Luft geholt, dann stürzen sich die meisten wieder hinein, gleiten hinein, werden aufgesogen von der heißen, dampfenden Menschenmasse vor der Bühne, deren Bewegung der Bass vorgibt, ein mächtig pumpender, ungeheuer physischer Bass, der einem das T-Shirt um den Körper wehen lassen würde, wäre es nicht so schwer vom Schweiß.

Verantwortlich für das Wogen sind The Prodigy, die Big-Beat zum Sound der 1990er machten. Die Briten brachten vor über zwanzig Jahren Rave und Punk zusammen, und ihre Live-Shows sind immer noch erbarmungslos und zähnefletschend, testosterongeschwängert und ein bisschen prollig. Die beiden Impressarios Keith Flint und Maxim Reality, beide mittlerweile knapp älter als 40 Jahre, rasen auch 2010 über die Bühne, wie Duracell-Hasen auf Starkstrom, Schlagzeug und Gitarre dürfen auch mitmachen, vor allem der Drummer durchdringt die dröhnenden Computersounds jedoch nur schwach. Denn die sind markerschütternd, eineinhalb Stunden am Anschlag, keinerlei Dramaturgie, immer Vollgas. Nur hin und wieder wird die Bassdrum herausgenommen – Spannung erzeugt – und unter Jubel wieder hineingedrückt.

prod1

Beinahe noch extremer als der auditive ist jedoch der optische Lärm. Die Band steht vor einer gewaltigen Batterie an Scheinwerfern, die Bühne sieht in etwa so aus, wie sich besonders kreative Science-Fiction-Regisseuer das Raumschiff technologisch besonders fortschrittlicher Außerirdischer vorstellen. Vor der Halle wird vor dem intensiven Gebrauch von Stroboskop gewarnt. Diesem herrschsüchtigen Licht zu seiner ganzen, fast brutalen Wirkung verhilft ein hagerer Mann mit langen Haaren und Spitzbart. Der Lichtjockey hat sein Pult in der Mitte der Halle, hinter dem des Tonmannes, aufgebaut. Hinter ihm steht ein bequemer, großer Chefsessel, doch den nutzt er das gesamte Konzert über nicht.

prod3

Er steht unter großer Anspannung. Seine Finger fliegen über die Knöpfe und Regler, wie die von Klavierspielern über die Pianotasten. Hochkonzentriert. Er streicht die Protagonisten vorne auf der Bühne mit Schatten durch, grelles Rot überredet ein dünnes Blau zur Selbstaufgabe. Für den Lichtjockey ist das nur ein Knopfdruck, aber der muss immer genau auf dem Beat liegen. Das Licht ist bei The Prodigy nicht nur unterstützendes Beiwerk, vielmehr lenkt es die Emotionen, wie selten bei Pop-Konzerten.

Und am Ende steht die absolute sensorische Überforderung, der man sich nur hingeben kann. Hineinziehen lassen, eins werden mit der Masse. Und danach? Der letzte Song heißt: „Take me to the Hospital”.

Ähnliche Artikel

2 Comments

Post A Comment

Simple Share Buttons
Simple Share Buttons