Kultur

Und unter den Annalen, der Muff von 100 Jahren…

Regina Karl
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Ein theatrales Dokument: Tobias Ginsburg präsentiert noch das ganze Wochenende über in der Reaktorhalle Edwin Erich Dwingers zweifelhaften Aufstieg und Fall als Schriftsteller unter Hitler.

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„Weiter, weiter…“, so die letzten Worte in Tobias Ginsburgs Inszenierung „Nestbeschmutzung“, die er noch das ganze Wochenende über in der Münchner Reaktorhalle zeigt. „Weiter, weiter“, so der immer wiederkehrende Nachhall des Abends. Geschichte lässt sich nicht aufhalten, nicht einmal ein Regieeinfall kann Vergangenes ungeschehen machen.

Doch genau dieses Drehen und Schrauben am Rad der Zeit treibt Ginsburg in seiner Produktion um. Über ein Jahr lang beackerte der Regisseur zusammen mit seinem Freund und Theaterkollegen Raphael Dwinger die morschen Äste an dessen Stammbaum. Dwinger möchte heute ganz wie damals der Opa im 1.Weltkrieg Schauspieler werden. Der Großvater aber war zu Höherem geboren, verbindet man mit dem Namen Edwin Erich Dwinger doch einen der bekanntesten Propaganda-Schriftsteller der Nazi-Zeit. Bis heute hinterlässt Dwingers Werk einige dunkle Kapitel: Fügte er sich mit Romanen wie „Tod in Polen“ nur blitzkriegartig in sein Nazi-Schicksal oder deuten die antisemitischen Tendenzen und seine Ernennung zum Untersturmführer bei der SS nicht eindeutig darauf hin, dass er die braune Suppe des Dritten Reichs ordentlich nachgewürzt hat?

An Blut und Boden-Metaphorik fehlt es seinen Romanen jedenfalls nicht, doch ist dieser Nährboden für rechtspopulistische Ideologie in den Familienbanden Dwingers in Vergessenheit geraten. Seine Kinder wollen nichts wissen von den Vorwürfen gegen den Papa, die Nazi-Karriere weicht Beschönigungen über die idyllische Kindheit auf einem Bauernhof im Allgäu. Die Verdrängungstaktiken der Familie Dwinger hat Ginsburg nun akribisch in diversen Videointerviews und einer umfassenden Archivarbeit zusammengetragen. Auf einer Bühne, die sich irgendwo zwischen Holocaust-Mahnmal und zementierten Dokumentenstapeln bewegt, können wir Ginsburgs Rechercheergebnisse nun mit auswerten.

Ginsburg präsentiert uns den Status Quo einer Suche nach Wahrheit. Auf die Bühne stellt er sich selbst, gespielt von Anton Schneider, und Raphael Dwinger, dessen Part der Münchner Schauspieler Matthias Renger übernommen hat. Zusammen mit einem Dramaturgen (Andreas Haun) ist der Regietisch komplett, und die drei Darsteller beginnen um den Fortgang einer Inszenierung über Edwin Erich Dwinger zu ringen. Unvermeidlich verstricken sich Schauspielerei und Lebenslinien zu einem unauflöslichen Knäuel. Ginsburg selbst ist Jude. Seine Großeltern fielen dem Verfolgungswahn des Dritten Reichs zum Opfer, konnten den Holocaust jedoch überleben. Mit dieser seiner Vita konfrontiert Ginsburg seinen langjährigen Freund Raphael Dwinger und untermauert das Ganze mit allerlei Archivschnipseln, die die Nazi-Schuld des Großvaters beweisen sollen. Dwinger kontert, macht die Schuld zur Generationenfrage, seinen Judenfreund Ginsburg zum Alibi für die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und seinen linken Intellektualismus zur Kehrtwende im geistigen Eigentum der Familie Dwinger.

Die Geschichte dreht sich währenddessen stetig weiter. Als prophetische Widergängerin umwandert Léonie Thelen die Bühnenränder. In ihrem schlohweißen Haar nästelt die ewige Stimme der Toten. Sie ist Edwin Erich Dwinger, KZ-Häftling und SS-Mann zugleich. Thelen agiert als Archiv, das wir hören und lesen können, jedoch nicht zu befragen wagen. Mehr noch als auf Seiten des Spürhundes Ginsburg, stehen wir plötzlich selbst auf der Anklagebank. Die Videoschnipsel, die Einspielungen aus den Lautsprechern, die Originaldokumente, all das formt sich zu einem Brei aus 100 Jahren bedrohlich verstaubter Literatur zusammen, die man nicht recht zu kategorisieren weiß.

Was nur liest sich zwischen den Zeilen der Dwingers und Ginsbrugs dieses Abends? Gegen Ende der Produktion fordert uns der echt gespielte Ginsburg dazu auf, unter unserem Stuhl ein DIN-A4-Blatt hervorzuziehen. Auf dem Blatt die Transkription eines späten Texts von Dwinger, den Ginsburg und sein Team in der Münchner Monacensia ausgegraben haben. „Das war Theresienstadt!“, ein brutales Phantasieren des Großvaters über die nackte Gewalt des Nazi-Regimes, allerdings mit verkehrten Rollen. Nicht eine Jüdin, sondern eine BDM-Führerin fällt darin einer Vergewaltigung durch die russische Siegermacht zum Opfer. Am Ende von Dwingers Text wird die fast zu Tode geprügelte Frau wahnsinnig. „Vielleicht war es eine Gnade“, schreibt Dwinger, und spätestens mit diesem Moment hält die Ratlosigkeit endgültig Einzug auf Bühne und Zuschauerraum.

Wo ist die Wahrheit der Geschichte vergraben? Wer zieht die Trennlinie zwischen Täter und Opfer, wenn nicht ein Wahnsinniger? Woher die Antworten nehmen, wenn sie die Väter nicht geben? Weit ab vom Manichäismus der Geschichtsschreibung hält Ginsburg immer wieder den Daumen auf das unbenennbare Dazwischen. Weder schwarz noch weiß sind unsere Viten, was sich dazwischen mischt, ist immer wieder das klebrige Rot der Blutschande unserer Väter. Sich jedoch mit der Grauzone zwischen diesen Lagen zufrieden geben, das darf nicht genügen. Weiter, weiter, immer weiter…

nestbeschmutzung material 3 from Nest Beschmutzung on Vimeo.

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Weitere Vorstellungen von „Nestbeschmutzung“ am 29. und 30.04., sowie am 02. und 03.05 jeweils um 20 Uhr in der Reaktorhalle München.

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