Kultur, Live

Warschauer Delikatessen — Warlikowskis dekadenter Flirt mit der Gegenwart

Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski liebt lange und extravagante Performances, mehrstündige Theater-Epen, auch sein „Warschauer Kabarett“ umspült uns wieder mit einer viereinhalbstündigen Bilderflut und reißt uns aus unserem komfortablen Alltag in ein wirres, turbulentes Bad der menschlichen Leidenschaften und konfrontiert uns mit unseren unmittelbaren Geschichte. Seine Kreationen sind immer turbulent und quälend zu gleich, treiben Humor, Trunkenheit und Exzess düster auf die Spitze und lassen alles zu einem makabren Tanz der Phantasien verschwimmen. Es ist seine Fähigkeit, Formen und Epochen, Genres und Ästhetik so zu mischen, um somit unsere gemeinsame Vergangenheit, angesichts unserer heutigen Gesellschaft in Frage zu stellen.

Kabaret Warszawski c) Magda Hueckel

“Willkommen, Welcome, Bienvenue” – genau damit begrüßen die Schauspieler ihre Zuschauer und entführen in ihr viereinhalbstündiges „Warschauer Kabarett“. Der Abend ist in zwei verschieden Perioden der Geschichte geteilt: den Aufstieg des Nationalsozialismus in den 30er Jahren und New York nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001. Warlikowskis Abend ist, neben den üblichen Film- und Literaturreferenzen, vor allem von Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“, Christopher Isherwoods „Lebewohl Berlin“ (Textgrundlage des Films “Cabaret” von Bob Fosse), „Shortbus“ von John Cameron Mitchell und dem Leben des Transgenderkünstlers Justin Vivian Bonds inspiriert. Er umrahmt seinen Abend mit Pailletten, Perücken, Rock’ n Roll, sexy Choreographien, Szenen aus der Music Hall, dem internationalen Showbusiness und porträtiert dadurch den abscheulichen Missbrauch der Geschichte und die seelischen und neurotischen Brüche des Menschen. All das schwingt permanent in einer beeindruckenden Schärfe mit und weist beunruhigend auf das aktuelle Aufleben des Konservatismus hin.
Die 15 Schauspieler kombinieren in ihrem brisanten Spiel körperliche Verausgabung, Tanz, Gesang und Showeinlagen. Es ist ein Flirt zwischen der Faszination des Bösen und dem Fatalismus der Geschichte, wenn Warlikowski eine langbeinige Blondine eine Peep-Show von einem tuntig-parodierten Hitler machen lässt, dem Otto-Normal-Verbraucher der Weimarer Republik ordinäre, antisemitische Parolen in den Mund legt oder die verführerischen Abgründe eines hysterischen Star auf der großen Showbühne demaskiert.

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Im zweiten Teil gibt „Radio Head“ und der ohrenbetäubende Klang einer Rockband den Ton an: Transsexualität, Bisexualität, Fantasieliebhaber, kollektiver Orgasmus, Gruppenkiffen, Katastrophen, großstädtische Verlogenheit, Gruppenselbstbefriedigung, moderne Verlorenheit, Beziehungskonstellationen, Peep-Shows, brutal-erotische Kämpfe. Die Künstler entwickeln zusammen mit Musik, Text, Video und Bühne eine dunkle Darstellung der geheimsten, aber auch der banalsten Phantasien.

Warlikowski schafft es gleichzeitig, Wunder und Trauma, Trash und Träume, Leiden und Erhöhung, das Groteske und das Tragische, das Orgiastische und das Politische auf die Bühne zu bringen. Er vereint Gegensätze – will einen Schock im Gehirn des Betrachters auslösen. Der Abend hat zwar durchaus seine Längen, aber wenn man sich auf die schrille, bunte, brutale Bildgewalt einlässt, verirrt man sich in Warlikowskis Freiheit. Es bleibt schließlich dabei: Jede Wahl, die wir treffen, erschafft ein neues Universum. Der Weg zur Freiheit bleibt der der eigenen Entscheidung. Warlikowsksi Arbeit erfasst uns mit einer Kraft, die uns alle verbinden kann. Dieser Abend ist eine Reaktion auf alle Formen der Abgrenzung und des eingeschränkten Denkens. Er feiert die Freiheit, die des Körpers und die des Geistes. Es ist seine Sehnsucht die Bühne (wieder) zu einem Ort der unbegrenzten Möglichkeiten zu machen, an dem die exzessive Überschreitung zur Regel wird. Willkommen im „Warschauer Kabarett“.

Kabaret Warszawski c) Magda Hueckel

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