Aktuell, Kolumnen, Stadt

Eine lebenswerte Stadt braucht mehr Gemeinschaft– eine Kolumne von Judith Büchl

Judith Büchl

Liebevolle menschliche Verbindungen als Fundament für eine glückliche Stadt

Großstädte sind paradox: Nirgendwo sonst leben so viele Menschen dicht beieinander, und doch fühlen sich viele einsamer denn je. Die Anonymität der Masse und das Tempo des Alltags lassen wenig Raum für echte, analoge Begegnungen. Einsamkeit ist nicht nur ein individuelles Gefühl, sondern ein gesellschaftliches Phänomen, das sich auf unsere mentale Gesundheit auswirkt.

2024 fühlte sich jeder neunte Mensch in Deutschland einsam – unabhängig von der
tatsächlichen Anzahl der Sozialkontakte (1). Studien zeigen, dass anhaltende Einsamkeit genauso schädlich für die Gesundheit sein kann wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag (2).

Einsamkeit ist kein individuelles Versagen, sondern ein natürliches Signal – ähnlich wie Hunger oder Durst –, das uns daran erinnert, dass wir uns mit anderen Menschen verbinden müssen. Doch viele Menschen versuchen, dieses Gefühl zu unterdrücken, weil es mit Scham behaftet ist. Eine Studie der Psychologin Susan Pinker (2015) belegt, dass soziale Inklusion der entscheidende Faktor für ein langes Leben ist – wichtiger noch als frische Luft und Bewegung. Schon der tägliche Kontakt mit Nachbarn, Postboten oder Baristas kann unsere Lebenserwartung positiv beeinflussen (3).

Meine persönliche Geschichte mit Einsamkeit

Auch ich kenne das Gefühl der Einsamkeit sehr gut. In meinem eigenen Leben gab es viele Momente, in denen ich mich aus verschiedenen Gründen allein gefühlt habe – nicht, weil keine Menschen um mich herum waren, sondern weil ich mich in meinen Themen und Erfahrungen isoliert gefühlt habe. Einsamkeit entsteht oft genau dann, wenn wir glauben, dass unsere Gefühle oder Herausforderungen von niemandem geteilt werden. Doch ich habe gelernt: In dem Moment, in dem wir den Mut aufbringen, uns verletzlich zu zeigen und unsere innersten Gedanken mit anderen zu teilen, entsteht eine tiefe, wertvolle Verbundenheit. Diese authentischen Begegnungen sind es, die uns mehr als alles andere tragen.

Warum Verbundenheit so wichtig ist

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir brauchen andere, um uns selbst zu spüren, um Resonanz zu erfahren und um ein Gefühl von Belonging zu entwickeln. Verbundenheit schafft Vertrauen, Sicherheit und letztlich Lebensqualität. In einer Zeit, die von Digitalisierung geprägt ist, können uns digitale Kanäle zwar auf vielfältige Weise vernetzen, doch es bleibt essenziell, Räume für analoge Begegnungen zu schaffen, die echte Nähe ermöglichen.

Die Bedeutung der „Dritten Orte”

Um Einsamkeit nicht nur individuell, sondern auch strukturell zu begegnen, braucht es Orte, die Begegnungen ermöglichen. Der Soziologe Ray Oldenburg prägte den Begriff der „Third Places” – Orte, die weder Zuhause (First Place) noch Arbeitsplatz (Second Place) sind. Es sind Cafés, Parks, Bibliotheken, Märkte oder Nachbarschaftszentren, an denen Menschen informell zusammenkommen. Diese Orte sind niederschwellig zugänglich, demokratisch und bieten Raum für Austausch und Gemeinschaft. Sie sind das soziale Schmiermittel urbaner Gesellschaften, Orte der Vielfalt und der ungeplanten Begegnung (4).

Gerade in unserer heutigen Zeit erleben „Dritte Orte`` eine Renaissance: Städte weltweit erkennen zunehmend, wie wertvoll solche Räume für das gesellschaftliche Miteinander sind.

Sie werden gezielt gefördert, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die mentale Gesundheit zu unterstützen. Auch in München zeigt sich dieser Trend deutlich: Bayerische Bibliotheken entwickeln sich zu lebendigen Begegnungsräumen, Michi Kern verwandelt die Paketposthalle in einen Social Playground, und die inspirierenden Projekte von Daniel Hahn – wie der Wannda Circus, Bahnwärter Thiel oder die Alte Utting – prägen das kulturelle Stadtbild. Die Munich Creative Business Week 2024 widmet sich passend dazu dem Motto „How to design a vibrant community und zeigt, wie kreative Konzepte das urbane Miteinander stärken können. Zusätzlich gibt es aktuell das Förderprojekt „Zusammen.Halt” der Mars Wrigley Foundation, das gezielt Räume für Begegnung unterstützt.

Vom „Dritten Ort“ zum „Vierten Ort“: Räume für bewusste Verbundenheit

„Dritte Orte” sind wundervoll, aber meiner Meinung nach braucht es neue Konzepte und Räume der Verbundenheit, die den Fokus auf die Qualität der menschlichen Begegnung legen. Ich nenne solche Orte „Vierte Orte”: Das sind Begegnungsräume, in denen wir wieder lernen dürfen, uns menschlich und liebevoll bewusst miteinander zu verbinden. In München gibt es bereits Beispiele dafür – man denke an die fantastischen „Zuhörräume” von Michael Spitzenbergers Verein „Momo hört zu e.V..

Auch ich träume von meinem eigenen Vierten Ort, „ourWonderHaus“. An diesem Ort geht es darum, uns gemeinsam selbst besser kennenzulernen und zu verstehen, was gute menschliche Verbindungen ausmacht – das, was uns oft in der Schule nicht beigebracht wurde.

Findest du das spannend? Am 22.02. spreche ich auf dem Women’s Hub Day – an einem anderen wunderbaren vierten Ort, gegründet von Eli Perzlmaier – über meine eigene Geschichte und über meine Vision des Konzepts „ourWonderHaus” und warum wir „Vierte Orte” gerade jetzt dringend brauchen.

Diese Kolumne ist eine Einladung, sich selbst an den folgenden Fragen auszuprobieren und genauer zu erforschen: Wann fühlst du dich wirklich verbunden? Welche Räume geben dir Kraft? Und was können wir als Gemeinschaft tun, um diese Orte zu schaffen oder zu erhalten? Denn am Ende ist es nicht der Quadratmeterpreis, der entscheidet, wie lebenswert eine Stadt ist, sondern die
Qualität der Begegnungen, die sie ermöglicht.

P.S. Ein Blick auf sogenannte „Blue Zones” – Regionen, in denen Menschen besonders alt werden – zeigt, dass Zusammenhalt, Gemeinschaft und Fürsorge fest zum Alltag gehören.

Auch Studien zu „The Good Life” belegen: Wer gesund alt werden will, sollte vor allem in enge soziale Beziehungen investieren.

Über die Autorin:

Judith Büchl beschäftigt sich leidenschaftlich mit der Frage, wie wir in Städten nicht nur leben, sondern wirklich verbunden sein können. Sie schreibt, spricht und initiiert Projekte rund um die Themen Gemeinschaft, urbane Begegnungsräume und mentale Gesundheit.

Ihre persönliche Erfahrung mit Einsamkeit hat sie zu der Überzeugung gebracht, dass echte Verbundenheit der Schlüssel zu einem erfüllten Leben ist. Mit ihrer Kolumne möchte sie neue Perspektiven auf Stadtentwicklung eröffnen und zeigen, dass eine lebenswerte Stadt nicht nur aus Flächen und Zahlen besteht, sondern auch aus den Beziehungen zwischen den Menschen.

Beruflich arbeitet Judith bei Google, doch ihre Interessen und ihr Wirken gehen weit darüber hinaus: Sie schöpft Kraft und Inspiration aus ihren vielfältigen Ausbildungen als Trauerbegleiterin, Heilpraktikerin, Yogalehrerin, Clown, Resilience Coach, LEGO Serious Play Facilitator und I’m Remarkable Facilitator. All diese Erfahrungen prägen ihre Perspektive auf menschliche Verbindung und fließen in ihre Arbeit ein.

Inspiriert von Ray Oldenburgs „Third Places“ und ihrem eigenen Konzept der „Fourth Places“ entwickelt sie Ideen für Orte, die über bloße Begegnung hinausgehen – hin zu echter Nähe, Zugehörigkeit und Resonanz. Mit „ourWonderHaus“ verfolgt sie die Vision eines neuen urbanen Raums, in dem Menschen lernen, sich selbst und andere auf tieferer Ebene zu verstehen.
Wenn sie nicht gerade schreibt, spricht oder neue Begegnungsräume entdeckt, ist sie in München und auf der ganzen Welt unterwegs – immer auf der Suche nach Orten, die Menschen zusammenbringen.

Shownotes:
(1) https://www.bmfsfj.de/resource/blob/240528/5a00706c4e1d60528b4fed062e9debcc/einsamkeitsbarometer-2024-data.pdf
(2) https://extension.unh.edu/blog/2022/05/prolonged-social-isolation-loneliness-are-equivalent-smoking-15-cigarettes-day
(3) Pinker Susan (2015) “The Village Effect: How Face-to-Face Contact Can Make Us Healthier and Happier”
(4) Oldenburg Ray (1999) “Great good place”
(5) https://www.bluezones.com/
(6) Waldinger Robert, Schulz Marc (2023), “The Good Life: Lessons from the World’s Longest Scientific Study of Happiness”

Fotocredits: Foto 1 – Portraitfoto von Gastautorin Judith Büchl ©Women’s Hub / Foto 2 ©Pexels, Jessica Ticozzelli / Foto 3 ©Pexels, Leah Newhouse