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„Heilung“ im Zenith: Archaische Rhythmen und mystischer Rausch für die Sinne (Konzertkritik)

Ein Konzert der Band Heilung ist ein Spektakel für alle Sinne: martialische Kostüme, brachiale Inszenierung. Doch sind die altertümlichen Symbole anschlussfähig an Rechtsextreme? Unser Gastautor Thomas Gunnar Kehrt-Reese war am Konzert der mystischen Band und teilt seine Eindrücke.

Beim Betreten des dunklen Konzertsaals der Zenith Kulturhalle, dringt leises Waldrauschen aus den Lautsprechern und über die Menschenmenge, die Schutz vor dem kalten Herbstregen sucht. Vogelgesang und Windflüstern wehen durch die Balken bis hinunter zur Bühn. Nur das erste Drittel der Bühne ist für die Vorband – die Black-Metal-Band Zeal and Ardor – sichtbar, der Rest schlummert hinter einem schwarzen Vorhang wie ein Schleier zwischen zwei Welten. In den Ecken und an den Seiten der Bühne stehen kleine Bäume. Sie und die Menge sind in ein grünliches Licht getaucht, das an einen unheimlichen Nebel erinnert.

Das Publikum

Die Atmosphäre erinnert die versammelte Menschenmenge daran, dass das, was sich vor ihr abspielt, ebenso ein spiritueller oder ritueller Akt ist wie ein musikalisches Konzert.

Das Publikum ist eine bunte Mischung von Charakteren. Auf den ersten Blick könnte man meinen, die meisten kämen gerade von einem nahe gelegenen Metallica- oder Grateful Dead-Konzert, gekleidet in schwarze T-Shirts, Kapuzenpullis und abgewetzte Jeans. In den langen, fließenden Haaren der Männer und Frauen hängt der Geruch von Zigaretten. Doch es gibt noch andere Erscheinungen, die das schwarze Meer durchbrechen. Ein riesiger Mann, mindestens zwei Meter groß, in Pelzstiefeln und einer Art altnordischer Wikingerkleidung, die Seiten seines Kopfes kahl rasiert, ein langer, geflochtener Zopf hängt aus dem Haarstreifen auf seinem Kopf. Seine Augen sind rußschwarz geschminkt. In der Ferne drängen sich zwei Mädchen in Lederkorsagen und mit Runenlinien und Symbolen geschminkt in die Menge, die auch von einem Mittelaltermarkt stammen könnten. Eine andere Konzertfotografin trägt selbst Leder- oder Fellstiefel, eine Tunika und einen langen Zopf auf dem ansonsten kahl geschorenen Kopf.

Eine wilde Mischung

Es ist schwer zu sagen, wer hier in die Welt des anderen gereist ist: ein Haufen AC/DC-Fans, der versehentlich in eine antike Ritualstätte gestolpert ist, oder eine Handvoll germanischer Stammeskrieger, die nach der Schlacht im Teutoburger Wald einen Moshpit zu elektrischen Gitarren in Drop-D-Stimmung starten wollen.

Nachdem Zeal and Ardor die Bühne verlassen haben, wird der Vorhang, der die Bühne geteilt hat, zurückgezogen und gibt den Blick frei auf eine Welt, die bis dahin von der Menge getrennt war. In der Mitte hinten steht ein einfacher Thron, kaum mehr als ein Sitz, unter einem ebenso einfachen Holzrahmen und vor einer hängenden Trommel, die manchmal wie ein Blutmond beleuchtet wird. An den beiden hinteren Ecken flankieren verschiedene Trommelsets das Zentrum, die meisten aus echten Tierhäuten . Die modernen, schlanken Mikrofonständer der Vorgruppe wurden durch Stative ersetzt, die wie Knochenstiele mit Geweih an der Spitze aussehen. An verschiedenen Stellen im Hintergrund hängen Banner oder Tierfelle über den Mikrofonständern. An den Mikrofonständern der Hauptsänger*innen Kai Uwe Faust und Maria Franz hängen Trinkhörner und ersetzen die Plastikflaschen, die man bei einer konventionellen Band erwarten würde. So weit, so stimmig.

Abgesehen von kleinen Bildschirmen an einigen Mikrofonständern, den Mikrofonen selbst, einer minimalen Audiomischstation für den dritten Showrunner Christopher Juul an der linken Bühnenseite und der Bühnenbeleuchtung ist auf der Bühne wenig Modernes zu sehen.

Damit ist die Bühne im wörtlichen und übertragenen Sinne für Heilung bereitet. Sie widersetzen sich so ziemlich jeder konventionellen Definition von Musik- oder Theaterperformance – die Gruppe wird oft als „experimentelles Folkkollektiv“ beschrieben – und definieren ihr eigenes Genre als „Amplified History“, indem sie heidnischen Schamanismus mit einem Sammelsurium antiker und frühmittelalterlicher Einflüsse zu einem faszinierenden Teppich aus Musik, Erzählung und Performance verweben. Die Gründungsmitglieder Faust, Franz und Juul haben die Gruppe als Projekt ins Leben gerufen, um Atmosphären des Altertums heraufzubeschwören und die Verbindung zwischen Mensch und Natur zu betonen, in der Hoffnung, Musik rituell einzusetzen, um eine „kraftvolle und transformierende Erfahrung“ zu schaffen.

Wenn das Konzert zum Ritual wird

Jede Aufführung beginnt damit, dass Faust mit einer Schale und einem Baumzweig auftritt, um die Bühne und das Publikum mit Rauch zu segnen. Nach Abschluss schließen sich ihm die restlichen Darsteller zu einer Eröffnungszeremonie an, bei der sie auf der Bühne Hand in Hand einen Kreis bilden und Folgendes rezitieren:

„Erinnere dich, wir sind alle Brüder. Alle Menschen, Tiere, Baum, Stein und Wind, wir alle stammen von dem einen großen Wesen ab, das immer da war, bevor Menschen lebten und es benannten, bevor der erste Samen spross.“

Von da an entwickelt sich die Aufführung zu einem visuell und akustisch überwältigenden Spektakel. Fausts Gesang reicht von hallendem Kehlkopfgesang bis zu fauchender Aggressivität. Franz, die zierlichste Gestalt auf der Bühne, gekleidet in ein ätherisches weißes Gewand und eine Kopfbedeckung, ergänzt das Gebrüll von Faust und den ihn begleitenden Kriegern mit einem Tenor, der mal engelsgleich gurrt, mal ergreifend schreit, als wolle er die Götter herbeirufen, die im Ritual beschworen werden. Juul steht auf der linken Seite der Bühne, springt zwischen Mischpult, Trommeln und Saiteninstrumenten hin und her oder dirigiert mit einem Stab in der Hand die begleitenden Darsteller, die Krieger genannt werden, beim Hakkerskaldyr-Gesang.

Ob es sich um ein herzzerreißendes Kriegerlied handelt oder um einen schwungvollen Vortrag von Franz und seinen beiden weiblichen Begleiterinnen, die Live-Performance von Heilung ist faszinierend. Er fesselt Augen und Ohren und lässt nie Monotonie aufkommen.

Dem Rhytmus und der Atmosphäre kann man sich kaum entziehen

Das Ritual fließt und verebbt in einem perfekten Gleichgewicht, das den primitiven, dröhnenden und stampfenden Rhythmen Raum gibt und sich mit langsameren Momenten abwechselt, die einen packen und wieder loslassen, fast wie ein Tanz der Sinne. Unterstrichen wird das Ganze durch eine beeindruckende Licht- und Bühneninszenierung. Unabhängig von religiöser oder kultureller Zugehörigkeit, Musikgeschmack oder historischem Bezug kann man sich der fast urtümlichen Atmosphäre von Rhythmus und Zeremonie kaum entziehen. Selbst als Fotograf, ständig in Bewegung zwischen Schützengraben und Menschenmenge, spürte ich, wie meine Füße und Beine den Takt hielten, und wenn ich mich bewegte, übernahmen entweder meine Hand oder mein Kopf unbewusst den Rhythmus, bis ich wieder stillstand.

Heilungs Musik ist so vielfältig wie ihre Auftritte. Zuhörer*innen werden eine bunte Mischung aus Sprachen hören: von modernem Deutsch, Englisch und Dänisch über Altnordisch, Hoch- und Althochdeutsch bis hin zu Proto-Germanisch. Die Texte und Geschichten in ihren Liedern sind inspiriert von historischem Material, archäologischen Funden und der germanischen Mythologie – und oft direkt daraus entnommen. Das hypnotische “Hamrer Hippyer”, ein rhythmischer, tranceähnlicher Gesang, enthält Verse aus den “Merseburger Zaubersprüchen”, mittelalterlichen Zaubersprüchen unbekannter Herkunft, die in einem Manuskript aus dem 9. Das ergreifende „Anoana“ verbindet Inschriften von Brakteaten, Münzen aus der Spätantike und dem Mittelalter, von denen viele mit der germanischen Mythologie und dem Heidentum in Verbindung stehen und den Träger schützen sollten.

Faschistische Symbolik?

Die Verwendung und Interpretation historischer und archäologischer Materialien wirft verständlicherweise Fragen und sogar Bedenken bei einigen auf – und das aus gutem Grund. In einer Zeit der weit verbreiteten Desinformation, die oft ahistorische Narrative oder gar Pseudogeschichte verwendet, ist das eine gesunde Skepsis.

Darüber hinaus ist die zeitgenössische Verwendung von Wikinger- und altnordischer Symbolik leider auch bei radikalen ideologischen Gruppen verbreitet, insbesondere bei faschistischen und neonazistischen Gruppen, die sich auf kriegerische Motive und die Behauptung „arischer Stärke“ berufen. Es ist daher verständlich, dass mancher einer Nischengruppe, die in dunklen Gewändern und Geweihen oder nur in Hosen und mit Körperbemalung auftritt und ihre eigene Interpretation von Geschichte und Artefakten inszeniert, mit Skepsis begegnet.

Heilung bemüht sich jedoch, diese Bedenken – insbesondere ideologischer Art – zu zerstreuen, indem sie ihre Philosophie und ihre Absichten klar darlegt und Hassreden, Rassismus und weiße Vorherrschaft ausdrücklich verurteilt. Was die „genaue“ Interpretation unvollständiger oder noch nicht vollständig verstandener Artefakte wie der Merseburger Zaubersprüche oder der Brakteaten betrifft, hat die Gruppe klargestellt, dass es nicht ihre Absicht ist, historische oder wissenschaftliche Analysen zu liefern. In einem Interview mit „The Guardian“ 2022 betonte Juul, dass sie den wissenschaftlichen Prozess den Expert*innen überlassen, aber „was wir tun wollen, ist eine Atmosphäre zu schaffen“, die moderne Zuschauer mit einer antiken Atmosphäre und einem Gefühl verbindet, das Aristoteles vielleicht als „Thymos“ bezeichnet hätte – eine leidenschaftliche Spiritualität und Verbundenheit mit dem Leben jenseits des Selbst.

Obwohl ihre aktuelle Tour als ihre letzte „für die absehbare Zukunft“ angekündigt ist, haben sie einige Termine bis 2025 markiert, nachdem ihre Australien- und Neuseeland-Tour im November endet. Wenn du dich in der Nähe eines ihrer Auftritte befindest, solltest du ihn dir nicht entgehen lassen, besonders wenn der Veranstaltungsort im Freien liegt, wo sie in ihrem Element sind. Du wirst es nicht bereuen.

Bilder & Text: © Thomas Gunnar Kehrt-Reese