Foto: Johann & Erwin Rittenschober
Aktuell, Kultur

Kunst über Ego und Gemeinschaft: „Nur die Bereitschaft zum Perspektivwechsel kann in eine gute Zukunft führen“

Lily Franzke

Ein Blick in die Ausstellung „EGO. Kunst, Gesellschaft und das Ich“ – mit wertvollen Insights von Kurator Miro Craemer.

Ich, ich, ich und nochmal ich – aber nie ohne die anderen?  In der Pinakothek der Moderne dreht sich seit dem 16.11. alles um das eigene Ego. Dabei gilt: ein Ego kommt selten allein. Mit Werken von 20 Künstler:innen, Designer:innen, Architekt:innen und Kulturschaffenden reagiert die Ausstellung  so künstlerisch wie vielfältig auf gesellschaftliche Diskurse über Individualität und Gemeinschaftsowie den Egoismus, der zwischen beidem steht. Dabei ist sie weit mehr als nur eine Ausstellung: Es ist ein Appell, sich auf die eigene Innenwelt einzulassen und den Dialog zu suchen.

Hinter dem Projekt stehen Miro Craemer und Open4, das Bildungs- und Vermittlungsprogramm der Pinakothek der Moderne. Craemer ist Kunstvermittler und auch selbst Künstler. Im Austausch mit MUCBOOK berichtet er über seinen persönlichen Zugang zur Ausstellung und warum ihn das Thema schon so lange begleitet:

„Als jüngstes Kind meiner Eltern, die viel mit sich selbst beschäftigt waren, war ich oft auf mich alleine gestellt. Da ich mit Pferden und anderen Tieren aufgewachsen bin, ist das Verhältnis von „Ich und dem Wir“ in der Natur besonders interessant. Tiere kommunizieren anders als Menschen, aber das Bedürfnis nach Unabhängigkeit wie nach Nähe spielt auch bei ihnen eine wichtige Rolle. Durch die Tiere habe ich viel über die Menschen gelernt.“

Johann & Erwin Rittenschober

Foto:  Johann & Erwin Rittenschober

„EGO. Kunst, Gesellschaft und das Ich“ ist Teil vom „Denkraum Deutschland“, einem interdisziplinären Kunstformat in der Pinakothek der Moderne. Seit sieben Jahren widmet sich der „Denkraum“ immer wieder zentralen gesellschaftlichen Themen. So stand 2021 das Potential des Weiblichen in Kunst und Gesellschaft im Fokus und 2023 folgte unter dem Motto „Hey Alter. Museum und Generationen“ ein intergenerationeller Dialog.

Im „Denkraum Deutschland“ geht es längst nicht nur um klassische Führungen: Performances, Diskussionen und Workshops ergänzen das Programm und machen deutlich, wie interaktiv das Format angelegt ist. Mitdenken und Mitmachen wird bei den fast 40 interaktiven Projekten großgeschrieben – denn Kunst soll hier nicht nur betrachtet, sondern erlebt werden. Miro Craemer betont:

„Zum Kernthema des „Denkraum Deutschland“ gehört von Anbeginn die Teilhabe der Besucher:innen. So gibt es dieses Jahr eine sogenannte Aktivwand, auf der Fragen gemeinsam gestellt und beantwortet werden können und auch eine Fotowand der Künstlerin Shue Oberschelp, die durch die Teilnahme der Besucher:innen stetig wächst.“

Inspiriert ist die Idee vom dialogischen Austausch zwischen Kunst und Betrachter:in von Joseph Beuys, der das Museum als Ort der „permanenten Konferenz“ beschrieb.

Johann & Erwin Rittenschober

Foto:  Johann & Erwin Rittenschober

Viefalt der Themen und Perspektiven

Die Besucher:innen sollen sich bewusst mitten in das Spannungsfeld aus dem Ich, den Anderen und dem Wir begeben. Dabei geht es im „Denkraum Deutschland“ nicht darum, fertige Wahrheiten zu liefern. Stattdessen sollen Diskussionen angeregt und unterschiedliche Blickweisen ausgetauscht werden. Die thematische Vielfalt gilt als Grundlage für eine produktive Auseinandersetzung. Anders Denken und Fühlen ist nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich gewünscht. Miro Craemer  sieht auch Bezüge zum aktuellen politischen Diskurs in unserem Land:

„Ich würde mir wünschen, die Debatten würden auch in unserer Gesellschaft so vielfältig wie in der Kunst und im „Denkraum Deutschland“ in der Pinakothek der Moderne geführt werden.“

Die Kunstwerke möchten gesellschaftlich relevante Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten – auch aus solchen, die in öffentlichen Debatten oft wenig Gehör finden, so Craemer:

„Ein Diskurs über das Selbstbild wird in allen gesellschaftlichen Gruppen geführt, aber oftmals erhalten sie nicht die nötige Öffentlichkeit. So haben wir bewusst Perspektiven wie das Ich im Alteroder in der Fremde oder auch den Verlust des Ichs in der Demenz zum Thema gemacht.“

Alle Blickwinkel miteinzubeziehen ist aber nicht immer so einfach – Bubbles, die sich den Sichtweisen anderer bewusst verschließen erschweren den offenen Austausch – mit schweriegenden Folgen für uns alle, ist Craemer überzeugt:

„Wenn der Austausch fehlt, ist das für eine vielfältige Gesellschaft und eine freiheitliche Demokratie eine Gefahr. Weil jede ideologische „Blase“ den offenen Austausch blockiert. Nur die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel, zu dem uns auch die Kunst immer wieder inspiriert, kann in eine gute Zukunft führen. Die rege Resonanz auf die Angebote des „Denkraum Deutschland“ zeigen, welch großes Bedürfnis es nach Diskurs und Miteinander gibt.“

Foto: Johann & Erwin Rittenschober

Kurator Miro Craemer in der Ausstellung. Foto:  Johann & Erwin Rittenschober

Wenn Worte versagen

Die Künstler:innen möchten dazu anregen, sich mit den Fragen und Konzepten rund ums Ego in der Gesellschaft auseinandersetzen. Im Zentrum steht die Frage nach dem Selbst: Was ist eigentlich das Ich? Schnell werden die Besucher:innen angeregt, über ihre eigene Identität nachzudenken.

Auf die Fragen der Ausstellung kann jedoch niemand so klar antworten – jedenfalls nicht in Worten. Die ganze Thematik ist komplex aber sie beschäftigt uns alle. Was passiert also, wenn Sprache versagt? Wie lässt sich das Unaussprechliche ausdrücken? – die Gefühle, das eigene Ich zu verlieren oder nicht zu wissen, wer man selbst oder die anderen sind. An dieser Stelle setzt die Kunst an. Sie kann auch ohne Worte sprechen und dem Unausprechlichen Ausdruck verleihen. In diesem Sinne arbeitet die Ausstellung mit einer Vielfalt der Medien: Licht, Klang, digitale Effekte, Fotografie und Video.

Miro Craemer verdeutlicht, wie vielschichtig das eigene Ich eigentlich sein kann:

„Wir alle haben verschiedene Facetten einer Persönlichkeit, viele „Ichs“. Insofern ist auch mein Ego an einem Tag ein rosafarbenes Quadrat im Technosound und am nächsten ein Silberkreis mit Tönen der arabischen Oud. Die Aufgabe, die sich stellt, ist alle diese Ichs so zu organisieren, dass sie sich nicht gegenseitig blockieren – ich arbeite stetig daran, und der „Denkraum Deutschland“ hat mir viele Inspirationen dazu geliefert.“

Die Rolle der Kunst: Zwischen Reflexion und politischer Verantwortung

Kunst spielt eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Diskurs über Selbst- und Gesellschaftsbilder. Sie ist omnipräsent und reflektiert die Themen, die unsere Zeit bewegen. Miro Craemer betont:

„In der Kunst spiegeln sich alle gesellschaftlichen Themen. Und da seit einigen Jahren die Beschäftigung mit der eigenen Identität, der einer Generation oder der eines Heimatlandes eine enorme Rolle spielt, tauchen solche Fragen auch in der Kunst auf – mit vielen Facetten und Widersprüchen.“

Die Ausstellung „EGO. Kunst, Gesellschaft und das Ich“ zeigt dabei auch, wie Kunst als politischer Raum funktioniert: Sie stößt Diskussionen an, liefert jedoch keine fertigen Antworten. Craemer findet:

„Jeder Raum ist ein politischer Raum, auch der Raum der Kunst. Aber Künstlerinnen und Künstler tragen darin nicht mehr politische Verantwortung als andere Bürgerinnen und Bürger, gerade in einer Demokratie. Ihre Rolle ist es, Diskussionen anzuregen – nicht, einfache Antworten zu geben.“

Foto: Johann & Erwin Rittenschober

Foto:  Johann & Erwin Rittenschober

Kunst als Lern- und Denkraum der Gesellschaft

Der „Denkraum Deutschland“ funktioniert für Craemer als beispielhafter Ausschnitt einer offenen Gesellschaft:

„Die Haltungen und Ausdrucksformen von über dreißig Künstler:innen und Kunstvermittler:innen zeigen unterschiedlichste Arten und Weisen, die Welt zu sehen und Brücken zu schlagen. Wenn uns eine Sichtweise besonders gut gefällt, können wir sie auch außerhalb der Ausstellung und des Museums vertreten und in unseren Alltag tragen. Eine Ausstellung aktiv und gemeinsam zu erleben, kann eine Anleitung sein, auch sonst aktiv zu werden und die Gemeinschaft noch bewusster auch in der Familie, mit Bekannten oder Arbeitskolleg:innen zu suchen.“

Kunst fordert uns auf, eigenständige Gedanken zu formen und kritisch zu reflektieren. So wird sie laut Miro Craemer zu einem Modell für gesellschaftliches Denken:

„Wir könnten lernen, wirklich eigene Standpunkte zu entwickeln und nicht der erstbesten oder am lautesten vorgetragenen Meinung hinterherrennen und auf den Social Media Kanälen zu teilen. Selbst anfangen zu denken, sich ein „Was wäre, wenn“ vorzustellen und dann eine individuelle Haltung dazu entwickeln, sind Gründe, weshalb es die Kunst seit Tausenden von Jahren gibt.“

Beitragsbild oben: Johann & Erwin Rittenschober

Auf einen Blick:

EGO. Kunst, Gesellschaft und das Ich
vom 16.11. bis 14.12.2025
Pinakothek der Moderne
Täglich 10.00 – 18.00 Uhr
Programm: