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Pendeln mit der S7: Stehend unterwegs
- Pendeln mit der S7: Stehend unterwegs - 23. Oktober 2024
Mal pünktlich, mal verspätet. Mal voll, mal leer. Wer S-Bahn in München fährt, muss mit dem Unwägbaren rechnen. Eine Erkundungstour in der S7.
Es ruckt und zuckt und für einen kurzen Moment scheint es, es gehe gleich weiter, aber eigentlich weiß man es mittlerweile besser. Die S-Bahn steht kurz vor Icking, es herrscht angespannte Stille, alle warten gebannt auf eine Ansage. Plötzlich tönt eine Stimme im Hintergrund: „Bahn hat Verspätung ohne End, zu schad, um drum zu lachen.“ Nun ist die Stimmung amüsiert und gelöst, weiter geht es trotzdem nicht. Die alte Dame grummelt noch etwas in sich hinein, später beim Aussteigen lächeln ihr ein paar Leute aufmunternd zu. Aufregen bringt ja nichts.
Die Münchner S-Bahnlinie 7 (S7) auf dem Streckenabschnitt Siemenswerke bis Wolfratshausen gleicht einer Achterbahn an Gefühlen. Schon die ersten Schritte auf dem Bahnsteig sind mit Nervenkitzel verbunden. Wird die Ansage kommen, dass es nur bis Höllriegelskreuth geht oder fällt der Zug um 8.24 Uhr ganz aus? In kaum einer Alltagssituation liegen Hoffnung und Enttäuschung so nah beieinander – und es gibt wohl keine vergleichbaren Plätze wie die des öffentlichen Nahverkehrs, an denen sich entweder ganz viele oder wenige Menschen aufhalten. Insbesondere in der S7 wird dieser Kontrast sichtbar.
Ihre Verspätungen sind geradezu legendär. Ob der nächste Zug aus allen Nähten platzt oder gähnend leer ist: reiner Zufall.
Montagmorgen, ausnahmsweise pünktlich!
Montagmorgen, Sonnenstrahlen schimmern hinter den Hausdächern hervor, vom Frost der letzten Tage zeugt nur noch der Streukies unter den Sohlen. Eine Frau joggt am Bahnsteig entlang, als sie sich anfängt zu dehnen, verkneift sich eine andere das Lachen. Ausnahmsweise pünktlich trudelt die Bahn ein, die Waggons sind leer. Vereinzelt lugen Haarschöpfe über den Sitzplätzen hervor, von den bereits Ausgestiegenen sind nur noch Tropfen auf dem Boden übrig. Einer der wenigen Passagiere ist Thomas Schneider*, der gut geschnittene Anzug und der kleine Rollkoffer entlarven ihn als routinierten Berufspendler, in der Gegend ist der Jurist aber nur zufällig. Als Beamter im Bayrischen Innenministerium geht es heute zur Katastrophenschutzschulung in Geretsried. Zur S7 könne er nicht viel sagen — „Heute kam sie pünktlich.“ Schneider vertieft sich wieder in seine Lektüre, es ist still in der Bahn. An den Fenstern ziehen Windräder vorbei, so als ob Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hier nicht ganz aufgepasst hätte.
Lokführer: “Wir schimpfen doch auch.”
Ein paar Tage später, es ist Freitagabend und die herunterprasselnden Regentropfen zerplatzen hart auf dem Boden. Sarah Abdul Rahmans angedachte Verbindung ist bereits ausgefallen, die Anzeige funktioniert nicht und nun steht sie fröstelnd inmitten eines Pulks von Menschen am Bahnsteig und wartet auf Informationen. Die Studentin ist zu ihren Eltern unterwegs, das Abendbrot in Wolfratshausen köchelt schon auf dem Herd. „Verspätungen waren schon zu meiner Schulzeit omnipräsent. Bei der Hinfahrt haben wir uns gefreut, bei der Rückfahrt eher nicht“, erzählt sie und unterbricht abrupt, um der Durchsage zu lauschen. „Wann es weitergeht, können wir nicht sagen“, klingt es aus den Lautsprechern, es gebe einen Feuerwehreinsatz in der Innenstadt. Allgemeines Augenverdrehen und entnervtes Kopfschütteln. „Typisch“ murmelt jemand in sich rein, eine Frau nickt daraufhin energisch. Mittlerweile ist es eng unter dem überdachten Häuschen, der Wind peitscht die Wartenden immer näher aneinander. Ein Mann telefoniert, dass es später werden könnte, hält kurz inne und korrigiert sich – später wird. Unmut macht sich breit.
Warten tut man gemeinsam!
Abdul Rahman nimmt es gelassen, öffnet ein Bier und erzählt munter von Partyfahrten und lustigen Begegnungen und plötzlich, wie aus dem Nichts: die S7 kommt. Alle schauen sich entgeistert an. Wie zum Sieg ballt eine Frau die Faust, rennt los, und die Menge taumelt ihr so erleichtert hinterher, dass mit dem Öffnen der Türen jeder Ärger verflogen ist. Ein Schwall warmer, abgestandener Luft entweicht dem überfüllten Zug, und die auf dem Bahnsteig geschlossenen Freundschaften zerstreuen sich wieder in die Anonymität.
Ein schüchternes Klopfen am vermeintlichen Grund allen Übels. Stürmisch öffnet sich die Tür zur Fahrerkabine und an Niklas Walters breitem Lächeln prallt jeder Vorwurf sofort ab. Ob ihn die Beschwerden der Fahrgäste stören? „Ach, wir schimpfen doch auch“, zuckt er fröhlich mit den Schultern. Die Verspätungen der S7 lägen zu 99 Prozent an der Eingleisigkeit der Strecke, da sei er leider machtlos. Seit fünf Monaten ist der 23-Jährige Lokführer, die Flitterwochen mit dem Job dauern noch an: „Ich finde Zugfahren einfach geil“, schwärmt er. Es sei wie am Simulator, nur in echt. Tür zu, weiter geht’s.
„Irgendwie haben die Verspätungen auch was Schönes“, überlegt Abdul Rahman später beim Aussteigen. Wenn alles glatt laufe, sei jeder in seinem eigenen Film – warten tue man gemeinsam.
*Name geändert
Foto: Finn Mund / Unsplash